Mein ist die Stunde der Nacht
die Theke und bestellte einen Kaffee. Die Sorgen nagten wieder an ihr, und sie musste sich eingestehen, dass weder die frische Luft noch der lange Spaziergang ihr geholfen hatten, einen klaren Kopf zu bekommen. Es ist sogar schlimmer als vorher, dachte sie. Ich weiß nicht, wem ich trauen kann und was ich glauben soll.
Dem aufgestickten roten Schriftzug auf seiner Jacke nach zu urteilen, war der Name des dürren grauhaarigen Mannes hinter der Theke Duke Mackenzie. Er schien in Schwatzlaune zu sein. »Sind Sie neu hier, Miss?«, fragte er, als er den Kaffee einschenkte.
»Nein. Ich bin hier aufgewachsen.«
»Gehören Sie zufällig auch zu den Leuten, die ihr zwanzigjähriges Abschlussjubiläum in Stonecroft gefeiert haben?«
Es gab keine Möglichkeit, einer Antwort auszuweichen. »Ja.«
»Wo haben Sie damals in der Stadt gewohnt?«
Jean deutete auf den hinteren Teil des Ladens. »Gleich da oben in der Mountain Road.«
»Ach, wirklich? Wir waren damals noch nicht hier. Das hier war früher ’ne chemische Reinigung.«
»Ich erinnere mich.« Obwohl der Kaffee fast noch zu heiß zum Trinken war, begann Jean, daran zu nippen.
»Meiner Frau und mir hat es hier in der Stadt gut gefallen, und so haben wir den Laden vor zehn Jahren gekauft. Mussten alles komplett renovieren. Wir müssen hart arbeiten, Sue und ich, aber es gefällt uns. Um sechs Uhr morgens öffnen wir, und vor neun Uhr abends machen wir nicht dicht. Im Moment steht Sue in der Küche und macht die ganzen Salate und bäckt. An der Theke verkaufen wir nur Sachen, die schnell gemacht sind, aber Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Leute an einem Tag hier auf eine schnelle Tasse Kaffee oder ein Sandwich reinkommen.«
Jean hörte dem Wortschwall nur halb zu und nickte.
»Über das Wochenende waren schon mehrere der ehemaligen Schüler hier Kaffee trinken, während sie ihre alte Heimat besichtigt haben«, fuhr Duke fort. »Die wollten einfach nicht glauben, wie die Grundstückspreise inzwischen gestiegen sind. Welche Hausnummer, sagten Sie, haben Sie gewohnt in der Mountain Road?«
Widerstrebend nannte ihm Jean ihre alte Adresse. Auch auf die Gefahr hin, sich den Mund zu verbrennen, schluckte sie fast den ganzen restlichen Kaffee hinunter, um möglichst bald wegzukommen. Sie stand auf, legte den Zwanzig-Dollar-Schein auf die Theke, um zu zahlen.
»Zweite Tasse ist gratis.« Duke wollte offensichtlich noch ein bisschen Ansprache.
»Nein, vielen Dank. Es wird langsam Zeit für mich.«
Während Duke an der Kasse das Geld zum Rausgeben zusammensuchte, klingelte Jeans Handy. Craig Michaelson war dran. »Gut, dass Sie Ihre Handynummer hinterlassen haben, Dr. Sheridan«, sagte er. »Können Sie sprechen, ohne dass jemand mithört?«
»Ja.« Jean ging ein paar Schritte von der Theke weg.
»Ich habe soeben mit dem Adoptivvater Ihrer Tochter gesprochen. Er und seine Frau werden morgen herkommen, und sie würden gerne mit Ihnen zu Abend essen. Lily, wie Sie Ihre Tochter nennen, weiß, dass sie adoptiert wurde, und hat schon immer den Wunsch geäußert, ihre leibliche Mutter kennen zu lernen. Ihre Eltern wünschen sich auch, dass das geschieht. Ich möchte jetzt am Telefon nicht zu sehr in die Details gehen, aber so viel kann ich Ihnen sagen: Es ist nahezu ausgeschlossen, dass Ihre Tochter je mit Laura Wilcox zusammengetroffen ist, daher glaube ich, dass Sie das letzte Fax als Fälschung ansehen müssen. Ich denke aber, aufgrund ihres gegenwärtigen Aufenthaltsorts brauchen Sie sich keine Sorgen um ihre Sicherheit zu machen.«
Für einen Moment war Jean so verblüfft, dass sie kein Wort herausbrachte.
»Dr. Sheridan?«
»Ja, Mr Michaelson«, flüsterte sie.
»Wird es Ihnen morgen Abend möglich sein?«
»Ja, natürlich.«
»Ich werde Sie um sieben Uhr abholen. Ich habe ein Abendessen in meinem Haus vorgeschlagen, damit Sie drei ungestört sein können. Danach werden Sie schon sehr bald, vielleicht noch an diesem Wochenende, mit Meredith zusammentreffen können.«
»Meredith? Ist das ihr Name? Ist das der Name meiner Tochter?« Jean merkte, dass sie plötzlich mit lauter Stimme sprach, aber sie konnte es nicht unterdrücken. Bald werde ich sie sehen, dachte sie. Ich werde ihr Auge in Auge gegenüberstehen. Ich werde sie in die Arme schließen können. Sie achtete nicht mehr darauf, dass ihr Tränen über die Wangen strömten und dass Duke jedes Wort von ihr aufsaugte.
»Ja, das ist ihr Name. Ich wollte es Ihnen eigentlich noch nicht sagen,
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