Mein ist die Stunde der Nacht
durch West Point. Der Zeitplan sah vor, dass sich alle um halb eins zum Mittagessen im Thayer versammeln sollten. Danach würden sie der Fahnenparade beiwohnen, bevor es zum Footballspiel ging.
Bevor sie zu den andern ging, schlug Jean den Weg zum Friedhof ein, um Reeds Grab aufzusuchen. Sie musste einen weiten Bogen durch das Gelände machen, aber sie war froh, etwas Zeit zum Nachdenken zu haben. Hier habe ich so viel Frieden gefunden, dachte sie. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn Reed noch lebte, wenn meine Tochter jetzt bei mir wäre, nicht irgendwo bei Fremden? Sie hatte es nicht gewagt, auf Reeds Beerdigung zu gehen, die am selben Tag wie ihre Abschlussfeier in Stonecroft stattgefunden hatte. Ihre Eltern hatten Reed nie kennen gelernt, sie hatten nicht die geringste Ahnung von seiner Existenz. Wie hätte sie ihnen gegenüber begründen sollen, warum sie nicht auf ihre eigene Abschlussfeier gehen konnte?
Sie lief an der Kapelle vorbei und musste an die Konzerte denken, die sie dort besucht hatte, zuerst allein, dann ein paar Mal mit Reed. Sie passierte Grabdenkmäler, auf denen berühmte Namen aus der Geschichte prangten, wandte sich zur Abteilung 23 und stand schließlich vor dem Grabstein, der seinen Namen trug, Lt. Carroll Reed Thornton jr. Jemand hatte eine einzelne Rose, an der ein kleiner Briefumschlag befestigt war, an den Grabstein gelegt. Jean rang nach Luft. Ihr Name stand auf dem Umschlag. Sie hob die Rose auf und riss die Karte aus dem Umschlag. Ihre Hände begannen zu zittern, als sie die wenigen Worte las: »Für dich, Jean. Ich wusste, dass du kommen würdest.«
Auf dem Rückweg zum Thayer-Hotel versuchte sie, die Fassung wiederzuerlangen. Das kann nur bedeuten, dass einer der Teilnehmer des Klassentreffens von Lily weiß und dieses Katz-und-Maus-Spiel mit mir veranstaltet, dachte sie. Wer sonst konnte wissen, dass ich heute hier sein würde, und voraussehen, dass ich zu Reeds Grab gehen würde?
Es sind zweiundvierzig aus meiner Klasse gekommen, dachte sie. Im Vergleich zu vorher schränkt das die Zahl derjenigen, die in Frage kommen, ziemlich ein. Ich werde herausfinden, wer es ist und wo Lily ist. Vielleicht weiß sie nicht, dass sie adoptiert wurde. Ich möchte mich nicht in ihr Leben einmischen, aber ich möchte Sicherheit darüber haben, dass es ihr gut geht. Ich würde sie gerne wenigstens einmal sehen, auch wenn es nur von weitem ist.
Sie beschleunigte ihren Schritt. Sie hatte nur heute und morgen Zeit, jedem in die Augen zu schauen und herauszufinden, wer auf dem Friedhof gewesen war. Ich werde mit Laura reden, dachte sie. Ihr entgeht nichts. Wenn sie bei der Gruppe dabei gewesen ist, die auch den Friedhof besichtigt hat, könnte ihr unter Umständen irgendetwas aufgefallen sein.
Kaum hatte sie den Raum betreten, der für das Mittagessen reserviert worden war, kam ihr auch schon Mark Fleischman entgegen. »Die Besichtigung war wirklich interessant«, sagte er. »Schade, dass du nicht dabei warst. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in der ganzen Zeit, die ich in Cornwall gewohnt habe, nur zum Joggen nach West Point gekommen bin. Aber du bist, glaube ich, in unserem letzten Schuljahr ziemlich oft hier gewesen. Ich meine, ich kann mich erinnern, dass du Artikel darüber für die Schülerzeitung geschrieben hast.«
»Ja, das stimmt«, sagte Jean vorsichtig. Erinnerungen stürmten auf sie ein. Sonntagnachmittage im Frühling, als sie auf dem Fußweg beim Trophy Point spazieren ging und sich
auf einer der Bänke niederließ, um zu schreiben. Die Bänke aus rosafarbenem Granit waren der Akademie von der Abschlussklasse des Jahrgangs 1939 gestiftet worden. Sie erinnerte sich an die Worte, die darin eingemeißelt waren: WÜRDE, DISZIPLIN, MUT, INTEGRITÄT, LOYALITÄT. Selbst die Schriftzüge auf diesen Bänken wiesen mich darauf hin, wie belanglos und kleinlich das Leben war, das meine Eltern führten, dachte sie.
Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder Mark zuzuwenden. »Unser Anführer Jack Emerson hat verlauten lassen, dass die Ehrengäste sich heute unters Volk mischen und sich an einen beliebigen Tisch setzen sollen«, sagte er, »was Laura vermutlich nicht sehr gelegen kommt. Ist dir aufgefallen, gegenüber welchen Leuten sie ihren Charme verbreitet? Beim Abendessen gestern hat sie mit unserem TV-Manager Gordon, unserem Dramatiker Carter und unserem Komiker Robby geflirtet. Heute im Bus saß sie neben Jack Emerson und gab sich die größte Mühe mit ihm. Wie zu
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