Mein ist die Stunde der Nacht
heißes Bad nehmen und mich ausruhen«, protestierte Laura. »Eine Besichtigung von West Point und danach ein Footballspiel, das ist ja alles gut und schön, aber stundenlang draußen in der Kälte zu verbringen, das ist einfach nichts für mich. Können wir das nicht auf später verschieben?«
»Nein«, sagte Jean mit fester Stimme. »Ich muss dich jetzt gleich sprechen.«
»Nur weil du es bist«, sagte Laura seufzend. Sie steckte die Plastikkarte in das Schloss. »Willkommen im Tadsch Mahal.« Sie öffnete die Tür und betätigte den Lichtschalter. Neben dem Bett und auf dem Schreibtisch gingen die Lampen an und beleuchteten spärlich das Zimmer, in das sich bereits die Schatten des späten Nachmittags legten.
Jean setzte sich auf die Bettkante. »Laura, es ist wirklich wichtig. Du bist doch bei der Besichtigungstour gewesen, die auch zum Friedhof gegangen ist, oder?«
Laura knöpfte sich die Wildlederjacke auf, die sie in West Point getragen hatte. »Ja, ja. Ich weiß, dass du in unserer Schulzeit öfter dort gewesen bist, Jeannie, aber ich war zum ersten
Mal auf diesem Friedhof. Gott, wenn ich an all die berühmten Leute denke, die da begraben sind. General Custer. Ich dachte immer, die ganze Welt wäre sich darin einig, dass er den Feldzug damals gründlich vermasselt hat, aber in Wirklichkeit wurde unter tatkräftiger Mithilfe seiner Frau beschlossen, dass er ein Held ist. Als ich heute an seinem Grab stand, musste ich daran denken, dass du mir vor langer Zeit mal erzählt hast, die Indianer hätten Custer ›Häuptling Gelbes Haar‹ genannt. Du hattest immer solche Geschichten auf Lager.«
»Sind bei der Friedhofsbesichtigung alle dabei gewesen, Laura?«
»Alle, die im Bus waren. Manche Leute, die ihre Kinder dabeihatten, sind mit dem Auto gefahren und haben allein einen Rundgang gemacht. Ich meine, ich hab gesehen, wie sie außerhalb der Gruppe über das Gelände liefen. Du hattest sicher auch keine große Lust, Grabsteine anzuschauen, als du klein warst.« Laura hängte ihre Jacke in den Schrank. »Jeannie, nimm’s mir nicht übel, aber ich muss mich hinlegen. Das solltest du auch tun. Heute Abend ist unser großer Auftritt. Wir kriegen die Medaille oder die Plakette, oder was es auch immer ist. Ich hoffe nur, dass wir nicht auch noch das Schullied singen müssen, was meinst du?«
Jean stand auf und legte ihre Hände auf Lauras Schultern. »Laura, es ist wichtig. Ist dir aufgefallen, dass jemand im Bus eine Rose bei sich hatte, oder hast du jemanden gesehen, der auf dem Friedhof eine Rose hervorgeholt hat?«
»Eine Rose? Nein, natürlich nicht. Ich meine, ich habe ein paar Leute gesehen, die Blumen auf Gräber gelegt haben, aber nicht aus unserer Gruppe. Wer von unseren Leuten soll denn jemanden, der dort begraben ist, gut genug gekannt haben, um Blumen mitzubringen?«
Ich hätte es mir denken können, dachte Jean. Laura achtet nicht auf Leute, die für sie nicht wichtig sind. »Gut, dann lasse ich dich jetzt allein«, sagte sie. »Um wie viel Uhr sollen wir unten erscheinen?«
»Sieben Uhr für die Cocktails, Dinner um acht. Unsere Medaillen bekommen wir um zehn. Und für morgen ist dann nur noch die Gedenkfeier für Alison und ein Brunch in Stonecroft vorgesehen.«
»Fliegst du gleich zurück nach Kalifornien, Laura?«
Aus einem Impuls heraus nahm Laura Jean in die Arme. »Ich habe noch keine genauen Pläne, aber sagen wir, vielleicht gibt es noch eine bessere Aussicht für mich. Bis später, Liebes.«
Als sich die Tür hinter Jean geschlossen hatte, holte Laura ihren Kleidersack aus dem Schrank. Sobald das festliche Dinner vorbei war, würden sie sich unbemerkt fortstehlen. Er hatte gesagt: »Ich habe das Hotel satt, Laura. Pack deine Sachen für die Nacht zusammen, und ich werde sie vor dem Essen in mein Auto bringen. Aber kein Wort darüber. Es geht niemanden was an, wo wir diese Nacht verbringen. Dann werden wir wieder gutmachen, dass du vor zwanzig Jahren nicht gemerkt hast, was für ein toller Mensch ich bin.«
Während sie eine Kaschmirjacke für den nächsten Morgen einpackte, musste Laura lächeln. Ich habe ihm gesagt, dass ich bei Alisons Gedenkfeier dabei sein möchte, aber dass es mir nichts ausmacht, wenn wir den Brunch auslassen.
Dann wurde sie nachdenklich. Er hatte geantwortet: »Was mich betrifft, werde ich Alisons Gedenkfeier unter gar keinen Umständen auslassen.« Aber natürlich hatte er gemeint, dass sie zusammen hingehen würden.
19
SAM DEEGAN WURDE UM drei Uhr
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