Mein ist die Stunde der Nacht
nachmittags von einem Anruf von Alice Sommers überrascht. »Sam, haben Sie heute Abend zufällig noch nichts vor, und hätten Sie Lust, auf ein Gala-Dinner zu gehen?«, fragte sie.
Sam zögerte, aber nur aus reiner Verblüffung.
»Es ist mir klar, dass die Einladung sehr plötzlich kommt«, sagte Alice entschuldigend.
»Nein, nein, macht gar nichts. Tatsächlich habe ich Lust, ich bin frei, und in meinem Schrank hängt ein gereinigter und gebügelter Smoking.«
»Heute Abend findet eine Feier statt, bei der einige Mitglieder der Abschlussklasse von Stonecroft von vor zwanzig Jahren geehrt werden sollen. Die Leute aus der Stadt wurden aufgefordert, Sitzplätze für das Dinner zu kaufen. Die ganze Sache dient hauptsächlich dazu, Geld für den neuen Erweiterungsbau zu sammeln, den sie für Stonecroft planen. Ich wollte zuerst nicht hingehen, aber ich möchte, dass Sie jemanden kennen lernen, der dort auch geehrt wird. Ihr Name ist Jean Sheridan. Sie hat früher neben uns gewohnt, und ich mag sie sehr. Sie hat ein ernstes Problem und braucht dringend Ihren Rat. Zuerst hatte ich vor, Sie zu bitten, morgen bei mir vorbeizukommen und mit ihr zu reden. Dann habe ich gedacht, dass es eigentlich schön wäre, wenn ich dabei wäre, wenn Jean ihre Medaille überreicht bekommt, und …«
Sam begriff, dass Alice Sommers’ Idee, ihn einzuladen, spontan gewesen war, und dass sie nicht nur anfing, sich dafür zu entschuldigen, sondern womöglich schon bereute, ihn angerufen zu haben. »Alice, es würde mich sehr freuen, mit Ihnen dorthin zu gehen«, sagte er mit Nachdruck. Er erwähnte nicht, dass er seit halb fünf Uhr morgens an dem Helen-Whelan-Fall gearbeitet hatte, gerade erst nach Hause gekommen war und eigentlich früh schlafen gehen wollte. Mit einem Nickerchen von ein oder zwei Stunden würde es schon gehen, dachte er. »Ich hatte sowieso vor, morgen vorbeizukommen«, fügte er hinzu.
Alice Sommers wusste, was er damit meinte. »Das habe ich mir fast gedacht. Wenn Sie um sieben Uhr kommen, könnten wir zuerst noch ein Gläschen bei mir trinken und anschließend zu dem Hotel fahren.«
»Abgemacht. Bis später, Alice.« Sam legte auf und hatte fast das Gefühl, sich dabei zu ertappen, dass ihn der Anruf und die Einladung weit über das normale Maß hinaus gefreut hatten. Dann dachte er über den Anlass nach. In welchen Schwierigkeiten mochte Alices Freundin, diese Jean Sheridan, wohl stecken? Aber wie ernst es auch immer war, es war nicht vergleichbar mit dem, was Helen Whelan spät nachts widerfahren war, als sie ihren Hund ausführte.
20
»GANZ SCHÖN VIEL AUFWAND, was, Jean?«, sagte Gordon Amory.
Er saß zu ihrer Rechten auf der zweiten Stufe des Podiums, wo man die Ehrengäste platziert hatte. Unterhalb von ihnen hatten der örtliche Kongressabgeordnete, der Bürgermeister von Cornwall-on-Hudson, die Sponsoren des Dinners, der Direktor und einige Kuratoren von Stonecroft Platz genommen und blickten befriedigt auf den voll besetzten Ballsaal.
»Ja, kann man sagen«, stimmte sie zu.
»Hast du nicht daran gedacht, deine Eltern zu diesem großen Ereignis einzuladen?«
Hätte sie nicht den ironischen Unterton in Gordons Stimme wahrgenommen, dann hätte sich Jean geärgert, so aber antwortete sie ebenso trocken: »Nein. Hast du daran gedacht, deine einzuladen?«
»Natürlich nicht. Genau genommen hat, wie dir vielleicht aufgefallen ist, keiner unserer ehrenwerten Kollegen auf dem Podium einen Elternteil mitgebracht, um diesen großen Augenblick des Triumphs mit ihm zu teilen.«
»Es ist wohl so, dass die meisten Eltern weggezogen sind. Die meinigen sind in demselben Jahr weggegangen, in dem ich meinen Abschluss in Stonecroft gemacht habe. Weg- und auseinandergegangen, wie du wahrscheinlich weißt«, fügte Jean hinzu.
»Genau wie meine. Wenn ich uns sechs, die wir hier oben sitzen, so betrachte, angeblich der Stolz unseres Jahrgangs, dann stelle ich fest, dass Laura die Einzige sein dürfte, die gerne hier gelebt hat. Ich glaube, du warst ziemlich unglücklich, das Gleiche gilt für mich wie auch für Robby, Mark und Carter. Robby war ein ziemlich mittelmäßiger Schüler aus einer Familie von Intellektuellen, über ihm schwebte ständig die Gefahr, das Stipendium für Stonecroft zu verlieren. Mit seinem Humor hat er sich geschützt und abgeschirmt. Marks Eltern ließen jeden, der es hören wollte, wissen, dass es ihnen lieber gewesen wäre, wenn sein Bruder noch leben würde und Mark an seiner Stelle
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