Mein ist die Stunde der Nacht
Alice, ich weiß nicht, ob ich damit zur Polizei gehen soll oder ob ich lieber einen Privatdetektiv beauftrage. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Du hast mit achtzehn Jahren ein Kind bekommen und nie jemandem davon erzählt?« Alice beugte sich über den Tisch und ergriff Jeans Hand.
»Du hast ja meine Eltern gekannt. Sie hätten sich bei jeder Gelegenheit angebrüllt, dass der andere daran Schuld habe. Genauso gut hätte ich ein Flugblatt mit der Neuigkeit in der Stadt verteilen können.«
»Und du hast wirklich niemandem davon erzählt?«
»Keiner Menschenseele. Ich hatte gehört, dass Dr. Connors bereits Leuten geholfen hätte, ein Baby zu adoptieren. Er drängte mich, es meinen Eltern zu sagen, aber ich war schon volljährig, und dann erzählte er, eine seiner Patientinnen habe kürzlich erfahren, dass sie keine Kinder bekommen könne. Sie und ihr Ehemann hätten vor, ein Kind zu
adoptieren, und es seien absolut wunderbare Menschen. Als er mit ihnen sprach, waren sie sofort von der Idee begeistert, mein Baby zu sich zu nehmen. Er hat mir einen Bürojob in einer Entbindungsklinik in Chicago besorgt, so konnte ich offiziell verbreiten, dass ich erst ein Jahr lang arbeiten will, bevor ich mit dem Studium in Bryn Mawr anfange.«
»Ich kann mich entsinnen, wie sehr wir uns gefreut haben, als wir erfuhren, dass du ein Stipendium bekommen hast.«
»Gleich nach unserer Abschlussfeier bin ich nach Chicago gezogen. Ich hatte das Bedürfnis wegzugehen, nicht nur wegen des Babys. Ich musste auch meinen Schmerz verarbeiten. Ich wünschte, du hättest Reed gekannt. Er war so ein besonderer Mensch. Wahrscheinlich habe ich deswegen nie geheiratet.« Jean traten Tränen in die Augen. »Ich habe diese Gefühle nie für jemand anderen aufbringen können.« Sie schüttelte den Kopf und nahm das Fax in die Hand. »Ich hatte bereits vor, zur Polizei zu gehen, aber ich wohne ja in Washington. Was könnten die unternehmen? ›Soll ich sie küssen oder umbringen? Kleiner Scherz.‹ Das klingt nicht unbedingt wie eine Drohung, oder? Aber eines scheint doch sicher zu sein: Das Ehepaar, das Lily adoptiert hat, muss in dieser Gegend gelebt haben, denn schließlich war die Frau Patientin bei Dr. Connors. Deshalb glaube ich, dass es besser ist, wenn ich damit zur hiesigen Polizei gehe. Was meinst du, Alice?«
»Ich glaube, du hast Recht, und ich kenne auch genau die richtige Person, mit der du sprechen solltest«, sagte Alice entschlossen. »Sam Deegan. Er ist Ermittlungsbeamter im Büro des Bezirksstaatsanwalts. Er war an dem Morgen bei uns, als wir Karen gefunden haben, und er hat den Fall nie zu den Akten gelegt. Mittlerweile ist er ein guter Freund geworden. Er wird einen Weg finden, wie dir geholfen werden kann.«
15
DER BUS NACH WEST POINT sollte um zehn Uhr abfahren. Um Viertel nach neun verließ Jack Emerson das Hotel und fuhr rasch nach Hause, um eine Krawatte zu holen, die er vergessen hatte einzupacken. Seine Gattin Rita, mit der er seit fünfzehn Jahren verheiratet war, saß am Frühstückstisch und las Zeitung. Als er eintrat, sah sie auf und blickte ihn gleichgültig an.
»Und? Wie läuft das große Treffen, Jack?« Der Sarkasmus, der jedes Wort begleitete, war nicht zu überhören.
»Ich würde sagen, es läuft alles gut, Rita«, erwiderte er freundlich.
»Ist das Zimmer im Hotel einigermaßen komfortabel?«
»Das Zimmer ist so komfortabel, wie die Zimmer im Glen-Ridge eben sind. Warum kommst du nicht mit und schaust es dir selber an?«
»Danke, das lasse ich lieber.« Sie senkte den Blick wieder auf die Zeitung. Für eine Weile stand er da und sah sie an. Sie war siebenunddreißig, aber sie gehörte nicht zu den Frauen, die mit zunehmendem Alter besser aussehen. Rita war schon immer reserviert gewesen, doch im Lauf der Jahre hatte ihr schmaler Mund einen unattraktiven, geradezu mürrischen Zug bekommen. Als sie noch Mitte zwanzig war und ihr Haar offen auf die Schultern fiel, hatte sie wirklich anziehend ausgesehen. Jetzt, mit den straff zurückgekämmten und
hochgesteckten Haaren, wirkte ihre Haut wie aufgespannt. Tatsächlich machte sie den Eindruck, als wäre sie ständig genervt und verärgert. Jack stellte fest, dass sie ihm durch und durch zuwider war.
Es machte ihn wütend, dass er das Gefühl hatte, seine Anwesenheit in seinem eigenen Haus rechtfertigen zu müssen. »Ich habe die Krawatte vergessen, die ich heute Abend zum Dinner tragen wollte«, sagte er scharf. »Deshalb bin ich kurz
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