Mein ist die Stunde der Nacht
seinen Klassenkameraden zusammen waren, dachte Jean. Reed wollte nicht, dass seinem Vater hinterbracht würde, dass er eine feste Beziehung eingegangen war.
Und ich wollte nicht, dass er meine Eltern kennen lernte.
Wenn er noch leben würde und wir geheiratet hätten – hätte die Ehe gehalten? Diese Frage hatte sie sich oft gestellt in den letzten zwanzig Jahren, und die Antwort war immer dieselbe gewesen: Ja, sie hätte gehalten. Ungeachtet der Tatsache, dass seine Familie dagegen gewesen wäre und dass sie noch Jahre für ihr Studium und die weitere akademische Karriere gebraucht hätte – sie hätte gehalten.
Ich habe ihn nur so kurze Zeit gekannt, dachte Jean, als sie auf den Parkplatz der Kirche fuhr. Ich hatte bis dahin nicht einmal einen Freund gehabt. Und eines Tages, als ich auf den Stufen des Monuments in West Point saß, setzte er sich neben mich. Mein Name stand auf dem Umschlag des Schreibheftes, das ich bei mir hatte. Er las laut: »Jean Sheridan«, und danach sagte er: »Ich mag die Musik von Stephen Foster, und weißt du, an welchen Song ich gerade denken muss?« Natürlich wusste ich es nicht, und er sagte: »Er fängt so an: ›Ich träum von Jeannie mit den hellbraunen Haaren …‹«
Jean stellte den Wagen ab. Drei Monate später war er tot, dachte sie, und ich erwartete ein Kind von ihm. Und als ich Dr. Connors in dieser Kirche sah und mir einfiel, dass ich gehört hatte, er vermittle Adoptionen, da war das wie eine Eingebung, die mir diktierte, was ich zu tun hatte.
So eine Eingebung bräuchte ich jetzt wieder.
26
JAKE PERKINS SCHÄTZTE die Zahl der Trauernden an Alison Kendalls Grab auf weniger als dreißig. Alle anderen hatten es vorgezogen, erst zum Brunch zu erscheinen. Nicht, dass er das verwerflich fand. Der Regen war stärker geworden. Seine Füße sanken im weichen, matschigen Gras ein. Es gibt nichts Schlimmeres, als an einem regnerischen Tag tot zu sein, dachte er. Hoffentlich würde er nicht vergessen, sich diesen Geistesblitz später zu notieren.
Der Bürgermeister war nicht erschienen, aber Direktor Downes, der bereits die Großzügigkeit und das Talent von Alison Kendall gepriesen hatte, trug nunmehr ein formvollendetes Gebet vor, das wirklich jeden Anwesenden zufrieden stellen musste, es sei denn, er wäre ein eingefleischter Atheist.
Sie mag ja talentiert gewesen sein, dachte Jake, aber wegen ihrer Großzügigkeit stehen wir hier herum und laufen Gefahr, uns eine Lungenentzündung zu holen. Aber es gibt jemanden, der das nicht riskiert hat. Er ließ seine Blicke über die Versammlung schweifen, um sich zu vergewissern, dass ihm Laura Wilcox nicht entgangen war, aber sie war tatsächlich nicht erschienen. Alle übrigen Ehrengäste waren anwesend. Jean Sheridan stand neben Direktor Downes, und man konnte sehen, dass sie wirklich trauerte. Einige Male tupfte sie sich die Augen mit einem Taschentuch. Alle anderen machten den
Eindruck, als wünschten sie, Downes möge die Sache zu einem raschen Ende bringen, damit sie bald wieder ins Trockene gehen und sich eine Bloody Mary gönnen könnten.
»Wir wollen auch der Klassenkameradinnen und Freundinnen von Alison gedenken, die bereits früher verstorben sind«, sagte Downes nüchtern: »Catherine Kane, Debra Parker, Cindy Lang und Gloria Martin. Aus diesem Jahrgang, der die Schule vor zwanzig Jahren verlassen hat, sind viele hervorgegangen, die Großes geleistet haben, und doch hat es gleichzeitig noch nie eine Klasse gegeben, die so hohe Verluste zu verzeichnen hatte.«
Amen, dachte Jake. Er hatte gerade beschlossen, das Foto von den sieben Mädchen am Mittagstisch für seinen Artikel über das Klassentreffen zu verwenden. Die Bildunterschrift hatte er bereits – Downes hatte sie ihm gerade geliefert: »Noch nie zuvor hatte eine Klasse so hohe Verluste zu verzeichnen.«
Vor der Zeremonie hatten ein paar Schüler an jeden Teilnehmer eine Rose verteilt. Nachdem Downes seine Ansprache beendet hatte, legte einer nach dem andern seine Rose zu Füßen des Grabsteins nieder und entfernte sich durch den Friedhof zum angrenzenden Schulgelände. Je weiter sie vom Grab weg waren, desto rascher wurden ihre Schritte. Jake erriet ihre Gedanken. »Gott sei Dank, es ist vorbei. Ich bin fast erfroren.«
Als Letzte ging Jean Sheridan. Sie stand still am Grab, wirkte nicht nur traurig, sondern auch tief in Gedanken versunken. Jake fiel auf, dass Dr. Fleischman stehen geblieben war und auf sie wartete. Sheridan beugte sich hinunter und
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