Mein ist die Stunde der Nacht
haben.
Das Gefühl, etwas Bedrohliches stünde bevor, die zunehmende Gewissheit, dass Lily in Gefahr schwebte, waren so stark geworden, dass Jean meinte, den Tag nicht überstehen zu können, wenn sie nicht irgendetwas unternahm.
Um halb neun begab sie sich hinunter zum Parkplatz und stieg in ihr Auto. Bis zur Kirche waren es fünf Minuten zu fahren. Sie hatte sich vorgenommen, gleich im Anschluss an die Messe mit dem Pfarrer zu sprechen, wenn er vor dem Eingang stehen würde, um die Leute beim Verlassen der Kirche persönlich zu begrüßen.
Auf dem Weg zur Hudson Street stellte sie fest, dass sie mindestens zwanzig Minuten zu früh dran war, und aus einem spontanen Entschluss heraus bog sie zur Mountain Road ab, um einen Blick auf das Haus zu werfen, in dem sie aufgewachsen war.
Es befand sich ungefähr in der Mitte der gewundenen Straße. Früher, als sie dort gelebt hatte, waren die Holzverschalung braun und die Fensterläden beige gestrichen gewesen. Die jetzigen Besitzer hatten das Haus nicht nur vergrößert, sondern ihm auch einen neuen Außenanstrich verliehen – die Wände waren jetzt weiß, die Läden tannengrün. Darüber hinaus besaßen sie offenbar ein Händchen dafür, wie man mit Bäumen und Sträuchern ein relativ bescheidenes Haus vorteilhaft einrahmen und verschönern konnte. Im frühmorgendlichen Dunst sah es wie ein richtiges Schmuckstück aus.
Das stuckverzierte Ziegelhaus, in dem die Sommers’ gewohnt hatten, schien ebenfalls gut in Schuss zu sein, dachte Jean, obwohl man auf den ersten Blick sah, dass zurzeit niemand dort wohnte. An allen Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen, aber die Anstriche wirkten frisch, die Hecken waren sauber geschnitten, und der lange, mit Platten belegte Fußweg von der Eingangstür zur Auffahrt war neu.
Ich habe dieses Haus immer geliebt, dachte sie, während sie anhielt, um es genauer betrachten zu können. Lauras Eltern haben es gut gepflegt, als sie dort gewohnt haben, und die Sommers’ danach ebenso. Einmal, als wir neun oder zehn Jahre alt waren, hat Laura zu mir gesagt, sie fände unser Haus hässlich. Ich mochte die braune Farbe auch nicht, aber ich
habe ihr nicht die Genugtuung verschafft, es zuzugeben. Ich frage mich, ob es ihr jetzt gefallen würde.
Nicht, dass das wichtig wäre. Jean wendete das Auto und fuhr den Hügel hinunter zur Hudson Street. Laura wollte mir nicht absichtlich wehtun, dachte sie. Es kam durch ihre Erziehung: Alles hat sich immer nur um sie gedreht, und ich glaube nicht, dass ihr das auf lange Sicht gut getan hat. Als ich das letzte Mal mit Alison telefoniert habe, erzählte sie mir, sie versuche, Laura einen neuen Job in einer Sitcom zu verschaffen, aber dass es sehr schwierig sei, sie zu vermitteln.
Alison meinte, Gordie – sie lachte und verbesserte: Gordon – könne Laura durchsetzen, aber sie glaube nicht, dass er das tun werde, entsann sich Jean. Laura ist immer die Prinzessin gewesen. Man empfand fast Mitleid mit ihr, wenn man sie jetzt sah, wie sie all die Männer zu umgarnen versuchte, sogar Jack Emerson. Sie schreckte wirklich vor nichts zurück! Er hatte etwas durch und durch Abstoßendes an sich, dachte sie mit einem Schauder. Was macht ihn eigentlich so sicher, dass ich eines Tages hier in der Gegend ein Haus kaufen werde?
Noch in der Frühe hatte es so ausgesehen, als ob sich der Nebel auflösen würde. Stattdessen waren, wie so oft im Oktober, die Wolken dunkler geworden, und der Nebel hatte sich in einen feuchten, kalten Nieselregen verwandelt. Es war das gleiche Wetter wie an jenem Tag, als sie gemerkt hatte, dass sie schwanger war. Ihre Eltern hatten sich wieder einmal gestritten, auch wenn dieser Streit halbwegs friedlich endete. Jean hatte ein Stipendium bekommen und wollte demnächst ans College gehen. Es bestand keine Notwendigkeit mehr für ihre Eltern, miteinander auszukommen. Sie hatten ihre Pflicht als Eltern getan, und jetzt wurde es Zeit, dass jeder sein eigenes Leben führte.
Das Haus verkaufen – mit ein bisschen Glück könnten sie es bis August loswerden.
Jean entsann sich, wie sie leise die Treppe hinuntergegangen und aus dem Haus geschlüpft war. Dann war sie nur noch gelaufen, immer weiter. Ich war mir nicht sicher, wie Reed reagieren würde, dachte sie. Ich wusste nur, dass er das Gefühl haben würde, seinen Vater hintergangen zu haben.
Reeds Vater war vor zwanzig Jahren Generalleutnant und im Pentagon stationiert gewesen. Das war einer der Gründe, warum wir nie mit
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