Mein ist die Stunde der Nacht
also jemand aus der Familie sein, die sie adoptiert hat. Er – natürlich könnte es genauso gut eine Sie sein – hat vielleicht die Absicht, von Ihnen Geld zu fordern, was, wie Sie schon gesagt haben, fast eine Erleichterung wäre. Aber eine Erpressung kann sich unter Umständen jahrelang fortsetzen. All das kann nur heißen, dass wir diese Person so schnell wie möglich finden müssen.«
»Ich bin heute Morgen in St. Thomas gewesen«, sagte Jean, »aber der Priester, der die Messe gelesen hat, kommt nur an Sonntagen hierher. Er hat gesagt, ich soll morgen zum Pfarramt gehen und mich an den Pfarrer wenden, um Einblick in das Taufregister zu erhalten. Aber ich habe darüber nachgedacht. Der Pfarrer könnte Bedenken haben, mir Zugang zum Register zu verschaffen. Er könnte glauben, es wäre nur ein Trick von mir, um Lily ausfindig zu machen.« Sie blickte Sam in die Augen. »Ich bin sicher, dass Sie auch so etwas gedacht haben.«
»Ja, am Anfang, als Alice mir von der Sache erzählt hat«, entgegnete Sam aufrichtig. »Aber nachdem ich Sie kennen gelernt habe, bin ich davon überzeugt, dass sich die Sache genauso verhält, wie Sie sie geschildert haben. Doch Sie haben Recht, was den Pfarrer betrifft. Deshalb glaube ich, Sie sollten es besser mir überlassen, zum Pfarramt zu gehen. Mir gegenüber wird er eher bereit sein, Auskunft zu geben, falls er etwas über ein adoptiertes Baby weiß, das in dieser Zeit getauft wurde.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Jean. »Wissen Sie, in diesen zwanzig Jahren habe ich mir immer wieder
die Frage gestellt, ob ich Lily nicht hätte behalten sollen. Es liegt noch nicht so viele Generationen zurück, dass eine achtzehnjährige Frau mit einem Kind die Norm war. Aber jetzt, wo ich sie unbedingt finden muss, wäre ich schon damit zufrieden, wenn ich sie nur einmal sehen könnte, selbst aus der Entfernung.« Sie biss sich auf die Lippe. »Zumindest glaube ich, dass ich mich damit zufrieden geben würde«, sagte sie leise.
Sam blickte von Jean zu Alice. Zwei Frauen, die, jede auf eine andere Art, ihr Kind verloren hatten. Jeans Kadett war im Begriff gewesen, seinen Abschluss zu machen und zum Offizier ernannt zu werden. Wenn er nicht bei dem Unfall umgekommen wäre, hätten Jean und er geheiratet und das Baby behalten. Wenn Karen vor zwanzig Jahren nicht zufällig zu Besuch gekommen wäre und bei ihren Eltern übernachtet hätte, wäre sie noch am Leben, und Alice hätte jetzt vermutlich Enkelkinder.
Im Leben ist es noch nie gerecht zugegangen, dachte Sam, aber manche Dinge können wir versuchen zu verbessern. Es war ihm nicht gelungen, den Mord an Karen aufzuklären, aber jetzt konnte er vielleicht Jean helfen.
»Dr. Connors muss mit einem Anwalt zusammengearbeitet haben, um die Adoptionspapiere auszustellen«, sagte er. »Es muss jemanden geben, der weiß, wer dieser Anwalt war. Lebt seine Frau oder seine Familie noch in der Gegend?«
»Ich weiß es nicht.«
»Gut, damit werden wir anfangen. Haben Sie die Haarbürste und das Fax dabei?«
»Nein.«
»Das hätte ich gerne.«
»Die Bürste ist eine von diesen kleinen, die man in der Handtasche mitnehmen kann«, sagte Jean. »Die Art, die man in jedem Drugstore bekommt. Auf dem Fax ist nichts, womit man den Absender identifizieren könnte, aber natürlich können Sie beides haben.«
»Wenn ich mit dem Pfarrer spreche, wäre es gut, wenn ich beides dabeihätte.«
Jean und Sam verabschiedeten sich ein paar Minuten später von Alice. Sie hatten verabredet, dass er ihr in seinem Auto zum Hotel folgen würde. Vom Fenster aus blickte Alice ihnen nach, dann langte sie in die Tasche ihrer Strickjacke. Am Morgen hatte sie einen Anhänger auf Karens Grab gefunden, den vermutlich ein Kind dort verloren hatte. Als kleines Mädchen hatte Karen Stofftiere geliebt, sie hatte eine ganze Menge davon gehabt.
Alice musste an die Eule denken, die einer ihrer Lieblinge aus der Sammlung gewesen war, während sie mit einem wehmütigen Lächeln die zwei Zentimeter große Eule aus Metall betrachtete, die auf ihrer flachen Hand lag.
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JAKE PERKINS SASS IN DER Eingangshalle des Glen-Ridge House und sah zu, wie die letzten Teilnehmer des Klassentreffens am Empfang ihre Rechnung bezahlten, um sich anschließend wieder auf den Weg in ihr jeweiliges Privatleben zu begeben. Das Transparent hatte man entfernt, und die Bar war, soweit er sehen konnte, menschenleer. Keine letzten Abschiedsdrinks, dachte er. So langsam hatten sie vermutlich die
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