Mein ist die Stunde der Nacht
absolut sicher«, teilte sie atemlos mit. »Ich habe gesagt: ›Mr Deegan, Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Zeug sie auf diesem kleinen Frisiertischchen im Badezimmer stehen hatte, und die Hälfte davon ist weg. Ich meine, so Sachen wie Reinigungsmilch, Feuchtigkeitscreme, Zahnbürste und ihr Kulturbeutel.‹«
»Verstehe, die Art von Sachen, die jede Frau mitnimmt, wenn sie irgendwo anders übernachtet«, half Jake. »Was ist mit ihrer Kleidung?«
»Darüber habe ich mit Mr Deegan nicht gesprochen«, sagte Myrna zögernd. Sie fummelte nervös am obersten Knopf ihrer schwarzen Jacke. »Ich meine, ich hab ihm gesagt, ich bin sicher, dass einer ihrer Koffer fehlt, aber ich wollte nicht, dass er von mir denkt, ich schnüffele in den Sachen rum oder so, deshalb habe ich nicht gesagt, dass die blaue Kaschmirjacke und eine Hose und die Stiefeletten nicht mehr im Schrank sind.«
Myrna hatte ungefähr die gleiche Größe wie Laura. Jede Wette, dass sie die Klamotten anprobiert hat, dachte Jake. Eine Kostümjacke und eine Hose fehlten – vermutlich hatte Laura vorgehabt, sie für die Gedenkfeier und den Brunch anzuziehen. »Sie haben Mr Deegan von einem Koffer erzählt, der nicht mehr in ihrem Zimmer ist?«
»Ja. Sie hatte eine Menge Gepäck dabei. Also ehrlich, man hätte denken können, sie wäre auf einer Weltreise gewesen
oder so. Na ja, jedenfalls war heute Morgen ein kleinerer Koffer nicht mehr da. Er war anders als die andern. Es war ein Louis Vuitton – deshalb hab ich gemerkt, dass er nicht mehr da war. Ich liebe das Muster. Es ist irgendwie so besonders. Die beiden großen, die sie dabeihat, sind aus cremefarbenem Leder.«
Jake hielt sich etwas auf seine französische Aussprache zugute, daher gab es ihm einen Stich, als er hörte, wie Myrna den Namen »Vuitton« aussprach. »Myrna, wäre es irgendwie möglich, dass ich einen Blick in Lauras Zimmer werfe?«, fragte er. »Ich rühre auch ganz bestimmt nichts an.«
Er war zu weit gegangen. Sie sah ihn geradezu erschrocken an, dann blickte sie an ihm vorbei den Flur entlang, und er erriet ihre Gedanken. Sollte ihr Chef sie jemals dabei erwischen, dass sie einen Fremden in das Zimmer eines Gastes gelassen hätte, würde sie gefeuert werden. Schnell trat er den Rückzug an. »Myrna, ich weiß, ich hätte Sie nicht darum bitten sollen. Vergessen Sie’s. Hören Sie, ich habe Ihnen doch meine Karte gegeben. Es wäre mir zwanzig Dollar wert, wenn Sie mich anrufen, sobald Sie was Neues von Laura hören. Wie wär’s? Wollen Sie nicht auch mal Reporterin spielen?«
Myrna biss sich auf die Lippe und dachte über das Angebot nach. »Es ist nicht wegen des Geldes«, sagte sie.
»Natürlich nicht«, sagte Jake.
»Wenn die Geschichte in der Post veröffentlicht wird, darf auf keinen Fall mein Name erwähnt werden.«
Sie ist schlauer, als sie aussieht, dachte Jake und nickte. Mit einem Handschlag besiegelten sie die Abmachung.
Es war inzwischen fast sechs Uhr. Als er in die Eingangshalle zurückkehrte, war sie beinahe menschenleer. Jake ging zum Empfangschef und erkundigte sich, ob Mr Deegan das Hotel verlassen habe.
Der Angestellte sah müde und genervt aus. »Ja, er ist gegangen, Junge, und ich schlage vor, du gehst jetzt auch nach Hause, es sei denn, du willst ein Zimmer mieten.«
»Ich bin sicher, dass er Sie gebeten hat, ihm Bescheid zu sagen, falls Miss Wilcox zurückkehrt oder sich meldet«, sagte Jake. »Darf ich Ihnen meine Karte dalassen? Ich habe Miss Wilcox im Laufe des Wochenendes näher kennen gelernt und mache mir ebenfalls Sorgen um sie.«
Der Empfangschef nahm die Karte entgegen und warf einen abschätzigen Blick darauf. »Ach nee, Reporter der Stonecroft Academy Gazette , und außerdem noch freier Schriftsteller und Journalist?« Er riss die Karte in zwei Stücke. »Eine Nummer zu groß für dich, Junge. Und jetzt tu mir den Gefallen und verschwinde.«
35
DIE LEICHE VON HELEN WHELAN wurde am Sonntagnachmittag um halb sechs Uhr in einer bewaldeten Gegend in Washingtonville entdeckt, einer Stadt, die etwa fünfzehn Meilen von Surrey Meadows entfernt lag. Ein zwölfjähriger Junge hatte sie gefunden, als er auf dem Weg zu einem Freund eine Abkürzung durch den Wald nahm.
Die Nachricht erreichte Sam, als er mit der Befragung der Angestellten im Glen-Ridge House fast fertig war. Er rief Jean in ihrem Zimmer an. Sie war hinaufgegangen, um Mark Fleischman, Carter Stewart und Jack Emerson anzurufen, in der Hoffnung, dass einer von ihnen etwas
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