Mein ist die Stunde der Nacht
Chaos, dachte sie, aber auf eine verrückte Art beneide ich Peggy Kimball. Ich beneide sie um ihre normalen Probleme,
die Probleme normaler Leute. Leute, die auf ihre Enkel aufpassen und die vollen Windeln von Babys wechseln und verschüttetes Essen und zerbrochenes Geschirr wegräumen müssen. Leute, die ihre Töchter sehen und berühren können, die sie ermahnen können, vorsichtig zu fahren und bis Mitternacht wieder zu Hause zu sein.
Sie hatte am Schreibtisch in ihrem Hotelzimmer gesessen, als Peggy Kimball angerufen hatte. Vor ihr ausgebreitet lagen die Listen, die sie versucht hatte aufzustellen, hauptsächlich die Namen von Leuten, die sie in der Entbindungsklinik kennen gelernt hatte, und dann noch die Dozenten an der Universität von Chicago, wo sie als Gasthörerin ihre gesamte freie Zeit verbracht hatte.
Sie massierte ihre Schläfen, um die beginnenden Kopfschmerzen wegzureiben. In einer Stunde, um halb acht, würden sie alle auf Sams Vorschlag hin mit ihm zu Abend essen, in einem privaten Speiseraum im Zwischengeschoss des Hotels. Er hat alle Ehrengäste gebeten zu kommen, dachte sie – Gordon, Carter, Robby, Mark und mich und natürlich Jack, den Organisator des vermaledeiten Klassentreffens. Was verspricht sich Sam davon, uns alle wieder um einen Tisch zu versammeln?
Dass sie sich Mark anvertraut hatte, war nicht nur eine Erleichterung gewesen. Sein Blick hatte Erstaunen ausgedrückt, als er gesagt hatte: »Das heißt, du bist damals mit deinen achtzehn Jahren bei der Abschlussfeier aufs Podium gestiegen, um die Medaille für Geschichte und das Stipendium für Bryn Mawr in Empfang zu nehmen, und gleichzeitig musstest du damit fertig werden, dass du schwanger warst und der Mann, den du geliebt hast, soeben tragisch ums Leben gekommen war?«
»Dafür erwarte ich weder Lob noch Tadel«, hatte sie geantwortet.
»Um Gottes willen, Jean. Weder lobe ich dich noch tadele ich dich«, hatte er gesagt. »Ich versuche mir nur vorzustellen,
was du durchmachen musstest. Ich bin immer nur zum Joggen in West Point gewesen und hab dich vielleicht ein- oder zweimal mit Reed Thornton gesehen, aber ich hätte nicht gedacht, dass es mehr war als eine Freundschaft. Was hast du nach der Abschlussfeier gemacht?«
»Ich habe mit meinen Eltern zu Abend gegessen. Es war ein richtiges Festessen. Sie hatten ihre christliche Pflicht an mir erfüllt und konnten sich jetzt ruhigen Gewissens trennen. Als wir uns am Ausgang des Restaurants verabschiedet haben, bin ich nach West Point gefahren. Reeds Begräbnis hatte am Morgen desselben Tages stattgefunden. Ich habe den Blumenstrauß, den mir meine Eltern zur Abschlussfeier gegeben haben, auf Reeds Grab gelegt.«
»Und kurz darauf bist du zum ersten Mal bei Dr. Connors gewesen?«
»In der Woche darauf.«
»Jeannie«, hatte Mark gesagt, »ich hatte schon immer das Gefühl, dass du, ähnlich wie ich, eine Überlebenskünstlerin bist, aber ich kann mir kaum vorstellen, wie es für dich gewesen sein muss, in einer solchen Situation so völlig allein zu sein.«
»Nicht ganz allein. Ich vermute, dass schon damals jemand davon gewusst hat oder es herausgefunden hat.«
Er hatte genickt und gesagt: »Über deinen beruflichen Werdegang habe ich gelesen, aber was ist mit deinem Privatleben? Gibt es jemand Bestimmten, oder gab es jemanden, dem du dich anvertrauen konntest?«
Jean dachte an die Antwort, die sie ihm gegeben hatte. »Mark, du kennst bestimmt die Zeilen aus dem Gedicht von Robert Frost: ›doch ich muss tun, was ich versprach / und Meilen gehn, bevor ich schlaf …‹ In gewisser Weise fühle ich mich so. Ich hatte zwar das Bedürfnis, über Lily zu reden, aber bis heute hat es keinen einzigen Menschen gegeben, dem ich mich hätte anvertrauen wollen. Ich führe ein erfülltes Leben. Ich liebe meine Arbeit und ich liebe das Schreiben. Ich habe
viele Freunde, sowohl Männer als auch Frauen. Aber wenn ich ganz aufrichtig bin, dann hatte ich immer das Gefühl, dass etwas in meinem Leben noch ungelöst ist, dass etwas erledigt werden muss, ein Gefühl, als ob ich mein Leben in einem Wartezustand gehalten hätte. Etwas muss zu Ende gebracht werden, bevor ich weitergehen kann. Ich glaube, dass ich anfange, die Ursache dafür zu begreifen. Ich frage mich immer noch, ob ich mein Baby nicht hätte behalten sollen, und jetzt, wo Lily mich vielleicht braucht, bin ich völlig hilflos. Ich möchte am liebsten die Zeit zurückdrehen, alles ungeschehen machen und die Chance bekommen, sie
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