Mein ist die Stunde der Nacht
Milch mitgebracht. Das hast du damals in der Grundschule jeden Tag gegessen. Weißt du noch?«
»Ja … ja.«
»Ich bin froh, dass du dich daran erinnerst. Es ist wichtig, die Vergangenheit nicht zu vergessen. Jetzt erlaube ich dir,
ins Badezimmer zu gehen. Danach darfst du dein Sandwich essen und deine Milch trinken.«
Mit einer raschen Bewegung zog er sie in eine aufrechte Sitzposition hoch und schnitt die Fesseln an ihren Handgelenken durch. Das alles geschah so plötzlich, dass Laura schwankte und die Hand ausstreckte. Unwillkürlich griff sie nach seinem Arm.
Er stöhnte auf vor Schmerz, ballte die Hand zur Faust, als wollte er sie schlagen, hielt dann aber inne. »Du konntest nicht wissen, dass mein Arm wehtut, also nehme ich es dir nicht übel. Aber fass meinen Arm nie wieder an, verstanden?«
Laura nickte.
»Steh auf. Nachdem du im Bad warst, werde ich dir erlauben, auf dem Stuhl zu sitzen und zu essen.«
Mit vorsichtigen, unsicheren Schritten gehorchte Laura. Im Bad konnte sie im Dämmerschein des Nachtlichts die Wasserhähne am Waschbecken erkennen und drehte sie auf. Hastig spritzte sie sich Wasser aufs Gesicht und strich sich die Haare zurück. Wenn er mich nur am Leben lässt, dachte sie. Sie müssten doch jetzt schon nach mir suchen. O Gott, bitte, mach, dass sie mich suchen.
Die Klinke an der Badezimmertür drehte sich. »Laura, es ist Zeit.«
Zeit! Wollte er sie jetzt umbringen? O Gott … bitte …
Die Tür öffnete sich. Die Eule zeigte auf den Stuhl neben der Frisierkommode. Stumm schlurfte Laura auf ihn zu und setzte sich.
»Fang an«, drängte er. »Iss.« Er nahm die Taschenlampe und richtete den Schein auf ihren Hals, sodass er ihre Miene beobachten konnte, ohne sie zu blenden. Es freute ihn, als er sah, dass sie wieder begonnen hatte zu weinen.
»Laura, du hast schreckliche Angst, nicht wahr? Und bestimmt fragst du dich, woher ich weiß, dass du dich über mich lustig gemacht hast. Ich werde dir eine kleine Geschichte
erzählen. Vor zwanzig Jahren sind wir alle aus unseren jeweiligen Colleges übers Wochenende nach Hause gefahren und haben uns an einem Abend getroffen. Es gab da eine Party. Nun, wie du weißt, habe ich nie dazugehört, ich gehörte nie zum inneren Kreis. Ich war sogar weit davon entfernt. Aber aus irgendeinem Grund war ich auf diese Party eingeladen, und du warst auch da. Die süße Laura. An diesem Abend bist du auf dem Schoß deiner neuesten Eroberung gesessen – Dick Gormley, unser ehemaliger Baseballstar. Der Anblick hat mir wehgetan, Laura, so sehr war ich immer noch in dich verliebt.
Alison war natürlich auch auf der Party. Ziemlich angetrunken. Sie hat sich mit mir unterhalten. Ich habe sie nie gemocht. Ehrlich gesagt, hatte ich Angst vor ihrer scharfen Zunge – sie konnte so gemein sein, wenn sie es auf jemanden abgesehen hatte. Sie kam darauf zu sprechen, dass ich in unserem Abschlussjahr mal so verwegen gewesen war, dich zu fragen, ob du mit mir ausgehen willst. › Du … ‹, sagte sie grinsend und lachte. ›Die Eule will mit Laura ausgehen.‹ Und dann hat Alison mir vorgemacht, wie du mich nachgeäfft hast, meinen Auftritt bei der Aufführung in der zweiten Klasse. ›Ich b-b-bin d-die Eu-Eule, und ich l-l-lebe in ei-ei-ei-nem …‹ Deine Parodie muss großartig gewesen sein, Laura. Alison hat mir versichert, dass die Mädchen an deinem Mittagstisch jedes Mal vor Lachen gekreischt haben, wenn sie sich daran erinnerten. Und dann hast du sie noch darauf hingewiesen, dass ich mir auf der Bühne in die Hose gemacht habe, bevor ich weggerannt bin. Selbst das hast du ihnen erzählt.«
Laura hatte einige Bissen von dem Sandwich gegessen. Jetzt sah er, wie sie es in ihren Schoß fallen ließ. »Es tut mir leid …«
»Laura, du begreifst immer noch nicht, dass du schon zwanzig Jahre zu lange lebst. Ich will es dir erklären. Ich war auch betrunken, auf dieser Party damals. Ich war so betrunken, dass ich vergaß, dass du umgezogen warst. Ich bin in
dieser Nacht hierhergekommen, um dich zu töten. Ich wusste, dass bei euch immer ein Ersatzschlüssel im Garten unter dem Zierfelsen lag. Eure Nachfolger hatten ihn auch dort versteckt. Ich bin in das Haus geschlichen und hinauf in dieses Zimmer. Ich hab nur den Haarschopf auf dem Kissen gesehen und gedacht, du wärst es, Laura. Es war ein Versehen, dass ich Karen Sommers erstochen habe. Ich dachte, ich würde auf dich einstechen, Laura – dich wollte ich töten!
Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht und
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