Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
einen Gruß, wahrscheinlich den Hitlergruß eines Menschen, der nicht im Bild ist. Er lächelt steif in die Kamera. Sein Gesicht ist von starken dunklen Augenbrauen und einer hohen Stirn markiert, er trägt keinen Schnauzbart wie sein großer Kumpan. Hinter ihm, halb verdeckt, Groscurth mit der Hand auf der Türklinke.
    Der Arzt weiß, dass er einen ziemlich gesunden Kerl vor sich hat. Er hegt, auch das zeigt das Foto nicht, keine Illusionen über den Patienten und die herrschende Bande, die Partei der Lügner, Krieger, Mörder, Schwerverbrecher. Auf der Mütze der Reichsadler mit gestreckten Flügeln und dem Hakenkreuz in den Klauen. Vor diesem Adler, vor diesem Kreuz, vor diesen Klauen ist Groscurth auf der Hut, er muss jetzt eine halbe Stunde lang den perfekten Nazi spielen. Er darf keinen Fehler machen, er lächelt, zeigt sich im Stolz bescheiden: Seht her, welchen bedeutenden Patienten ich da habe! Wer Gros-curths Geschichte kennt, liest hier noch mehr: Seht her, der Stellvertreter des Führers ist mein bester Schutz, mein bester V-Mann!
    Das dritte Foto gibt es nicht: Der Kaiser ist nackt, liegt in Unterhosen und Socken auf dem Untersuchungstisch. Er lässt sich abhorchen und abklopfen, in den Hals leuchten und den Bauch abtasten, lässt den Blutdruck messen und Blut abnehmen. Er fürchtet um sein Herz, beklagt seinen schlechten Kreislauf. Das EKG ist nicht schlecht für einen, der sich wenig bewegt und täglich den Widerspruch zwischen Propaganda und Wirklichkeit aushalten muss. Heß bleibt geduldig, fragt ängstlich nach Beschwerden, die er nicht hat. Groscurth spricht von einem Zystehen hier, einer Verhärtung und einem ungünstigen Blutwert da. Seine Therapie ist einfach: die kleinen Beschwerden ernst nehmen und aufblasen, damit der Patient bald wieder vorfährt. Heß ist ein fanatischer Anhänger der Naturheilkunde, und Groscurth geht, teils zum Schein, teils aus Interesse, auf seine Thesen ein. Der zweithöchste Mann des Reichs ist glücklich, in dem jungen Oberarzt endlich einen Schulmediziner gefunden zu haben, mit dem er ernsthaft über die Heilung durch Licht, Luft, Sport, Diät und Kräuterkuren diskutieren kann.
    In Dresden ist ein ganzes Krankenhaus für Naturheilkunde nach ihm benannt, aber das reicht ihm nicht. Er lässt sich gern von Magnetopathen, Augendiagnostikern und Handauflegern behandeln und diskutiert mit Groscurth über deren Künste, will sie von medizinischen Autoritäten bestätigt wissen. Heß glaubt an einen Wunderheiler, der seine Fähigkeiten von einem indischen Yogi gelernt hat und viele hohe Nazis mit Bohnen, Magneten und Fingerspitzen beeindruckt, mit denen er die Krankheiten aus dem Körper zieht. Groscurths wissenschaftliche Überprüfungen der angeblichen Erfolge fallen negativ aus, doch Heß lässt nicht locker und bestellt bessere Apparate. Ein Wettstreit der Schulen, Groscurth spielt mit und kann den enttäuschten Patienten überreden, auch andere neue Behandlungsgeräte für das Krankenhaus zu finanzieren.
    Wie die meisten hohen Nazis ist Rudolf Heß ein Hypochonder, also redet er viel von sich selbst. Groscurth behandelt einen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Gauleiter, Botschafter, Ministerialdirigenten und Unternehmer, aber keiner ist so geschwätzig wie der höchste Geheimnisträger. Wenn er matt und lustlos ist oder bei gutem Befinden von der eigenen Begeisterung übermannt wird, spricht er schon mal über die Größe des Führers, über die Fortschritte bei der Reinhaltung der Rasse, über die gewaltige Aufgabe, das internationale Judentum in riesigen Lagern im Osten zu konzentrieren, und, immer siegesgewiss, über die nächsten militärischen Schläge. Selbst das Geheimnis des geplanten Einmarschs in die Sowjetunion erfährt der Arzt, wolkig umschrieben, schon im Frühjahr 1941 in seinem Sprechzimmer.
    Gerade einer wie Rudolf Heß braucht hin und wieder eine halbe Beichtstunde, ein Aufatmen zwischen den pausenlosen Anstrengungen des zackigen Befehlens, des Rapports und Heil-Gebrülls, eine Erholung vom Zwang zur korrekten Geduld bei langweiligen Besprechungen, beim Sitzen vor dem Führer auf harten Stühlen und beim Anhören der immer längeren Reden in strammer, aufmerksamer Haltung. Und wo, außer im ärztlichen Sprechzimmer, darf sich ein Nazi so schwach zeigen, wie er ist? Bei den Kumpanen nicht, in der Familie nicht, Pastoren und andere Beichtväter sind völlig ausgeschlossen. Der Arzt hat Schweigepflicht, und hier ist ein Arzt, dem er wie keinem

Weitere Kostenlose Bücher