Mein Jahr als Mörder
feiger als unter den Nazis, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Da war ich für die einen die Kommunistin und für die ändern, für die Kommunisten, eine Märtyrerin, die hätten mich am liebsten heilig gesprochen. Aber es gab nichts dazwischen, wenig anständige Leute, nur ganz wenige Freunde, die sich normal verhalten haben, ohne mich zu verdammen oder in den Himmel zu heben.
Warum? Weil ich für den Frieden und gegen die alten Nazis war und weil ich das laut gesagt habe, das war das schlimmste Verbrechen, was du in Westberlin begehen konntest.
Warum? Weil die drüben auch für den Frieden und gegen die alten Nazis waren. Das hat mir an der DDR gefallen und am Sozialismus. An dem Punkt wusste ich immer, was ich Georg und den Kindern schuldig bin. Die Fünfziger, das waren mehr als zehn Jahre Widerstand, Widerstand im Kalten Krieg, das war viel komplizierter, weil es mehr als eine Front gab. Wir paar Hitlergegner, davon hast du keine Ahnung, Junge, waren ja besonders verdächtig, weil wir den Millionen Mitläufern bewiesen, dass sie sich auch anständig hätten benehmen können. Und dies Gezerre ist noch immer nicht vorbei, meine Prozesse laufen bis heute. Es ist auf eine absurde Weise sogar härter, weil wir in einem Rechtsstaat leben, angeblich. Es geht nicht mehr um Leben und Tod wie bei den Nazis, sondern um öffentliche Denunzierung, Berufsverbot, Schikanen, politische Gerichtsurteile, und weil wir ja die Demokratie haben und so weiter, da hast du viel weniger anständige Leute auf deiner Seite als unter den Nazis. Ich war ganz schön allein, seit 1951, als sie mich als Amtsärztin rausgeschmissen haben.
Warum? Da drüben, siehst du die Ordner da in der untersten Reihe? Acht Ordner, alle meine Prozesse. Schluss jetzt, das ist ein Sumpf, ein endloser Sumpf!
Sie gab mir einen Umschlag in die Hand und schickte mich fort. Es war das Urteil des Volksgerichtshofs.
Ruinen und Gesichter
- Es ist mein Ernst, ich will nicht mehr fotografieren, sagte Catherine. Jedenfalls nicht mehr Fotografin als Beruf. Die Ruinen hab ich alle durch, drei Jahre Ruinen, das reicht. Mein Entschluss steht fest, die Ruinenfotografin geht in Ruhestand, mit 24 kann ich noch wechseln. Genug Trümmerreste im Gegenlicht, die mir keiner abkauft! Genug Fensterhöhlen im Seitenlicht, die niemand sehen will!
Ich sah ihr gern zu, wenn sie sprach und sich in Rage redete, das schmale Gesicht konzentriert auf einen fernen Punkt gerichtet, dann wieder auf mich, wobei sie, im Eifer ihrer Rede, ständig das Haar von den Schläfen zur Seite strich. Ich hörte ihr gern zu, der markigen oberfränkischen Stimme. Catherine rauchte französische Zigaretten ohne Filter. Weintrinken abends war noch nicht in Mode, Bier galt als proletarisch und richtig, sie aber bestand auf Pinot noir.
Ihre Aufregung nahm ich nur halb ernst, ich kannte die Klagen. Es ging ihr nicht schlecht, sie bekam Geld aus dem Hausratsgeschäft in Marktredwitz, um sich eine Existenz als Fotografin aufzubauen, wie die Eltern hofften. Nebenbei lief sie zu politologischen und soziologischen Vorlesungen und war öfter auf Demonstrationen als ich, ohne Kamera.
- Als ich herkam, sagte sie, ungefähr fünfundsechzig, dachte ich: Ja, hier ist sie noch, die Vergangenheit, die im Westen überall weggebaggert und zubetoniert ist, der Widerspruch, der in der Luft liegt zwischen Mauerresten und wuchernden Sträuchern, zwischen dem leeren grauen Himmel und der freien Welt, die wir endlich zu einer freien Welt machen. Hier ist der Krieg noch nicht vorbei, hier gibt es so viel Unfertiges, Zukunft, das ist das einzig Gute in diesem Scheißberlin. Eine stille Utopie ist hier versteckt, so ein Schatten der Utopie (ich könnte nicht schwören, dass Catherine gesagt hat: Schatten der Utopie). Du schaust auf das Unwiederbringliche, in die Tiefe der verflossenen Katastrophen und denkst: Hier ist noch Zeit, über etwas Neues nachzudenken, hier könnte man, hier müsste man - etwas völlig anderes machen als das Übliche, jedenfalls keinen Betonschrott und keine formierte, normierte Gesellschaft.
- Genau das mag ich an deinen Fotos, sagte ich, die Geschichte steht still und fängt zu wispern und zu flüstern an.
- Aber es nützt ja nichts, sie machen auch hier das Übliche, Betonschrott. Die Ruinen verschwinden, ich kann nicht ewig fürs Archiv arbeiten. Tote Gleise, Schuttberge, gepflasterte Straßen, alte S-Bahnhöfe, das ist noch zu nah, noch nicht nostalgisch genug (ich bin nicht sicher, ob der
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