Mein Jahr als Mörder
Begriff nostalgisch schon zu unserm Wortschatz gehörte). Das Schlimmste ist: Was ich in meinen Ruinen sehe, das sehen die Leute nicht in den Fotos. Traurig, traurig, technisch sauber, sagen sie, hast du nichts anderes zu bieten?
- Du könntest in Neukölln oder Kreuzberg fotografieren, eh sie dort alles wegreißen.
- Das nimmt mir auch keiner ab: traurig, traurig, technisch sauber und so weiter. Nein, Vergangenheit ist nicht gefragt, höchstens bei der Landesbildstelle, aber denen hängen die Trümmer auch zum Hals raus.
Ihre Eltern, sagte sie nebenbei, hätten ihr noch für zwei Jahre Geld versprochen, dann müsse sie auf eigenen Füßen stehen. Bis dahin könne sie das Vordiplom schaffen, die letzte Gelegenheit umzusteigen. Aber ich wollte Catherine noch nicht an die Soziologie verloren geben.
- Oder die Mauer, systematisch die Mauer erkunden mit der Kamera.
- Da hat Springer genug Leute drauf angesetzt, sagte sie, damit verdien ich auch keinen Pfifferling. Die Mauer, ein alter Hut. Man muss sich spezialisieren, aber nicht prostituieren wie deine Yoko Ono!
Ich lachte, diese Anspielung machte sie gern, seit ich ihr erzählt hatte, dass anno 66 eine Japanerin mit großem Gesicht im Beatclub Marquee in London die Leute bedrängt hatte, ihre Ärsche fotografieren und filmen zu lassen, ich hatte abgelehnt
- der Film galt dann als Avantgarde, durch ihn lernte die Japanerin John Lennon kennen und wurde die berühmte Yoko Ono. Da hast du die Chance deines Lebens verpasst, witzelte Catherine öfter. Jetzt blieb sie beim Thema.
- Und komm mir bloß nicht wieder mit dem Rat, Menschen und Gesichter zu fotografieren, das mochte ich nie, und ich hab keine Lust, für diesen Irrtum nochmal verprügelt zu werden.
Wir kannten uns etwa ein Jahr und hatten schon drei oder vier solcher Grundsatzdebatten hinter uns. Nach der ersten Klage über ihre brotlose Kunst hatte Catherine versucht, ihren Widerstand gegen das Fotografieren von Menschen aufzugeben und in der Stadt Gesichter zu finden, die zu den Trümmern, Baulücken, Schutthalden und überwucherten Gleisen passten: Ruinengesichter. Alte Leute, Arbeiter, trostlose Verwaltungsgestalten, mürrische Verkäuferinnen, Hausfrauen vom Typ Blockwart, es gab eine riesige Auswahl von Berlinern, die uns hassten und in jedem Wesen, das jung, frech, rot war, lange Haare oder lange Mäntel trug, genau das Abbild der Karikaturen erblickten, die ihnen die Bildzeitungen täglich lieferten: Staatsfeinde, Kommunisten, Huren, Schwule, Nichtstuer, Randalierer, Chaoten. Millionen Berliner mit Springer, Senat, Polizei auf der einen Seite der Front und ein paar tausend «Extremisten» auf der ändern - ein Hasskrieg mit allen lustigen und bedrohlichen Reflexen und Schaukeleffekten.
Eine gefährliche Arbeit: Im Februar, nach dem Kongress und der größten Demonstration gegen den Krieg in Vietnam, völlig friedlich übrigens, hatten die Parteien, die Gewerkschaften und der Senat zu einer Demonstration gegen die linken Studenten zum Schöneberger Rathaus gerufen, die städtischen Arbeiter und Angestellten bekamen für diesen Nachmittag bezahlten Urlaub. Catherine wagte sich mit der Kamera dazwischen. Während die Politiker auf dem Podium von Frieden und Freiheit sprachen, beobachtete sie, wie ein j unger Mann, der einen Bart trug, angepöbelt wurde: Nimm deinen Bart ab! Du Kommunistensau! Hau ab! Der Mann versuchte wegzugehen und war plötzlich umstellt: Das ist Dutschke! Rudi Dutschke trug keinen Bart, aber das spielte keine Rolle, ein Feind war gefunden, der junge Mann, schon in Panik, schrie gegen die Menge: Ich bin ein Arbeiter wie ihr!, und hatte plötzlich eine Flasche auf dem Kopf, blutete, wurde geschlagen, bis Catherine ihn im Getümmel aus den Augen verlor. Während sie fotografierte, hörte sie: Schlagt den Dutschke tot! Hängt ihn auf!, bekam Angst vor den wild entschlossenen Gesichtern, wollte die Kamera wegstecken, aber es war zu spät, schon kehrte sich die Wut gegen sie und die Kamera.
Jemand schrie: Die fotografiert für den Osten!, ein anderer: Die ist aus dem Osten!, der Nächste: Kommunistenfotze! Sie war umstellt, man versuchte ihr die Kamera zu entreißen, die sie festhielt, dabei stürzte sie zu Boden und wurde nun getreten und von Krückstöcken älterer Leute geprügelt: Schneidet ihr die Haare ab! Schlagt sie! (Sie war übrigens nie sicher, ob auch ihr der Schrei galt: Schlagt sie tot!) Da kam ihr ein Mann zu Hilfe und versuchte die Schläger zu beschwichtigen: Das haben
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