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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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wir doch nicht nötig! Er wurde das nächste Opfer: Noch so ein Kommunistenschwein! Von Catherine ließen sie ab, rund zwanzig Leute fielen nun über ihren Retter her, schlugen zu, zerkratzten ihm das Gesicht und riefen: Kommunistenschwein, hau ab! Catherine hatte Glück, sie konnte sich unauf-fällig entfernen, die Kamera im Mantel versteckt, während der vermeintliche Dutschke fast gelyncht worden wäre und ihr Retter auf der Suche nach der Polizei Spießruten laufen musste, weiter bespuckt und getreten, bis ihn ein bekannter christdemokratischer Anwalt in Schutz nahm, der seinerseits mit den Parolen Rechtsanwalt!, Mahler!, Schlagt ihn tot! Überfallen und geschlagen wurde.
    Seit diesem Februartag, an dem Frauen mit langen Haaren, Presseleute, Pfeifenraucher, Träger von Cordhosen und randlosen Brillen zwischen fünfzig oder hunderttausend fanatischen Berlinern um ihr Leben fürchten mussten und von der Polizei nicht oder viel zu spät beschützt wurden, hatte Catherine ihre Theorie radikalisiert: Menschen als Objekte, das geht nicht, da bleibst du Voyeur, du legst dir immer was zurecht, einen Ausschnitt, die raffinierteste hundertstel Sekunde, sogar die Ruinengesichter, die Hassgesichter sind eine Lüge, denn du müsstest, zum Beispiel, diese Gesichter auch als banale Strahlegesichter unterm Weihnachtsbaum zeigen.
    Nun, ein drei viertel Jahr später, war ihr, wieder einmal, die ganze Arbeit zuwider. Jedes Foto verkürzt und verengt, hörte ich jetzt. Das Foto sei immer besser, schöner, effektvoller als der fotografierte Gegenstand. Je kunstvoller ein Foto, desto näher sei es der Lüge.
    Zum Beweis ihrer Thesen führte Catherine auch die Heßfotos an.
    - Die wichtigen Fotos fehlen, hast du gesagt. Zwei Fotos sind zufällig übrig - und die lügen. Schnappschüsse, die das Gegenteil der Wahrheit sagen. Du brauchst Erklärungen, Hintergründe, die du jetzt von Frau Groscurth erfahren hast. Du setzt dich hin, musst fragen und forschen und schreiben, bis du hinter die Wahrheit dieser Fotos kommst. Du lässt sogar dein Studium schleifen, weil du irgendwas genauer wissen, weil du schreiben willst. Und dann fragst du noch, weshalb ich Soziologie studieren will?
    - Ja, warum ausgerechnet Soziologie? Weil das alle machen?
    - Quatsch! Weil ich rausfinden will, wer die Leute sind, die mich verprügelt haben auf dem Kennedyplatz, warum die so geworden sind, woher ihr Hass kommt. Wie die Gesellschaft funktioniert, das interessiert mich mehr als die Ruinen!
    Wir verstrickten uns in den schönsten schülerhaften Streit, ob mit der Lüge die Kunst anfange oder die Kunst Lüge sei. Wir sahen uns vom Wort «affirmativ» in die Defensive gedrängt, das in jenen Monaten durch alle Kunstdebatten geisterte, von Marcuse aus Kalifornien importiert. Bejahend, bestätigend, zustimmend zur bestehenden Gesellschaft durfte auf keinen Fall sein, was geschrieben, gemalt, gespielt, gefilmt, fotografiert wurde. Zur Sache, Schätzchen galt als affirmativ, Artisten in der Zirkuskuppel ratlos nicht, Siegfried Lenz affirmativ, Peter Weiss nicht. Affirmativ, ein weiter Begriff, ein Streitwort, ein Verdachtwort, ein Totschlagwort, das uns zu Banausen machte.
    Gegen Ende unserer Debatte, so gespalten war ich, hielt ich einen meiner Lieblingssprüche von Jean Paul hoch: Leser kann man nicht genug betrügen. Und erklärte, dass ich gern mal einen Roman beginnen würde mit dem Satz: Um bei der Wahrheit zu bleiben, Leser kann man nicht genug betrügen.
    - Das schaffst du nie! Bist ja auch so ein Wahrheitsfanatiker, vergisst dein Studium, fängst plötzlich ein Buch über diesen Groscurth an!
    - Ich will auch mal unvernünftig sein, behauptete ich kühn, und einer spontanen Idee folgen, selbst wenn es eine fixe Idee ist.
    - Dann lass mir doch auch meine fixe Idee!
Das Recht spricht
    Habe ich, wie ich mir einbilde, wirklich gezittert, als ich zum ersten Mal auf die Wörter eines Todesurteils starrte? Die Abschrift, die mir Frau Groscurth mitgegeben hatte, lag auf dem Tisch, ich musste mich überwinden, das Papier anzufassen. Von den Sonderlichkeiten der Justiz hatte ich wenig Ahnung, von der Nazi-Justiz noch weniger. Du musst ganz von vorn anfangen mit dem Buchstabieren, nahm ich mir vor, Satz für Satz, Wort für Wort, wie Hieroglyphen alles geduldig entziffern, die Schriftzeichen der verflossenen, finsteren Epoche wie ein Wissenschaftler prüfen.
    Im Namen des Deutschen Volkes! Mit den am meisten missbrauchten deutschen Wörtern fing es an, mit einem

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