Mein Jahr als Mörder
Selbstverständlich darf die Hydra Teppiche fressen, nicht etwa weil sie Teppiche als Delikatessen schätzt, sondern weil der Frau Doktor kein Luxus zusteht. Zumindest sollte das Bestreben, den Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, vor dem Wunsche rangieren, sich den Besitz einer luxuriösen Wohnungseinrichtung zu erhalten. Jetzt darf jede kleine Jung-Hydra von Amtsrichter zur höhnischen Moralpredigt ausholen: Es ist gerichtsbekannt, daß die Schuldnerin eine führende Rolle in dem kleinen Kreise derjenigen Deutschen spielt, die den wirtschaftlichen Ruin und politischen Sturz ebenjener Gläubigerin (Stadt Berlin) als primäres Ziel (zumindest Nahziel) anstreben, vor deren Zugriff sie um Schutz bittet.
Anneliese Groscurth weiß nicht, welchen Kopf der Hydra sie zuerst abwehren soll. Sie kann nicht wie Herakles die Köpfe abschlagen, sie lehnt jede Gewalt ab, sie will nur ihren Frieden haben, den kleinen Frieden mit den Ämtern und den großen Frieden in Deutschland, sie will nur die Freiheit, die in der Verfassung steht, sie will nicht mehr verfolgt werden von ganzen oder halben Nazis und geifernden Juristen.
Am wichtigsten ist die Sache mit der gestrichenen Entschädigung. Der Anwalt reicht eine ausführlich begründete Klage beim Verwaltungsgericht ein. Er erläutert ausführlich die Verfahrensfehler des Sozialsenators und klärt die unkundigen Beamten auf, dass Frau Groscurth nicht nur als Hinterbliebene eines Verfolgten, sondern ebenso selbst als amtlich anerkannte Verfolgte anspruchsberechtigt sei.
Während sie jeden Tag mit der Hydra zu kämpfen hat, kämpfen die Alliierten um den Rundfunk in der Masurenallee. Ein DDR-Sender im britischen Sektor, seit Jahren Zankapfel der Propaganda aller Seiten, das kann nicht gut gehen. Im Mai legen die Franzosen den Sendemast um, im Juni blockieren die Briten das Haus, sie behaupten, auf dem Bürgersteig vor dem Sender würden Menschen entführt. Sie sperren auch die vielen westlichen Mitarbeiter aus. Inzwischen bauen die Kommunisten den Berliner Rundfunk im Ostteil auf. Wenn Anneliese das Geld zum Überleben behalten will, muss sie folgen. Im Westen würde niemand eine Hexe wie sie einstellen. Statt fünf Minuten zu Fuß ist sie nun dreimal in der Woche frühmorgens und mittags anderthalb Stunden unterwegs, um Betriebsärztin für ihre Patienten aus Ost und West zu bleiben.
Mitten in diesem Hin und Her, im Juli 52, trifft sie das neuste, das übelste, das schmerzlichste Gift, diesmal von der Hydra des Senators für Soziales: Die Klägerin war seit 1941 Mitglied der NS-Frauenschaft, sodaß § 6 Ziff. 1 des Anerkennungsgesetzes zum Zuge kommen muß und dadurch eine Anerkennung der Klägerin weder aus eigenem Recht, noch als Hinterbliebene möglich ist.
Die Seele kocht: NS-Frauenschaft! In die du zur Tarnung eingetreten bist! Nach Beschluss der E. U., um die Gruppe besser zu schützen! Damit Heß und Konsorten keinen Verdacht auf Georg richten! In der du nie aktiv warst. Jetzt stempeln dich diese Nazis noch zur Nazi-Frau! Weil die Mitläufer sich keine Nazigegner, nicht eine Stunde des Widerstands vorstellen können! Erst Kommunistin, dann Nazisse! Können sie nicht begreifen, dass du einfach nur Anneliese Groscurth bist?
Sie erweist sich als Meisterin der Beherrschung: Frist bis 23. August. Wie kann sie in vier Sommerwochen des Jahres 1952 beweisen, keine Nazi-Frau gewesen zu sein?
Robert ist ein Zeuge, Robert könnte den Eid schwören, dass alles zur Tarnung geschah. Aber Robert ist schwer zu erreichen, ein hohes Tier, Roberts Sekretärin in der Humboldt-Universität ist nicht berechtigt, ihr, einer Westberlinerin, irgendwelche Auskünfte zu geben. Sie zeigt den OdF-Ausweis vor, erklärt ihre Not, aber sie erfährt nicht, ob er in den Sommerferien ist, im Ausland, auf Schulung und wann er wieder zu sprechen sein wird. Auch seine Frau kann nicht helfen, vielleicht füttert Robert irgendwo an der Ostsee mit einer anderen herum.
Grete Rentsch, die Witwe von Paul, Zahnarzthelferin in Wilmersdorf, ist die letzte Hoffnung, die Einzige aus dem Umkreis der Gruppe, mit der Anneliese wie mit einer Freundin reden kann. Natürlich ist sie bereit zu beeiden, dass die Ärztin alles andere als eine Nazi-Frau gewesen ist, aber von der Sache mit der Tarnung hat sie keine Ahnung. Außerdem ist sie Mitglied der SED, darum ist ihr Zeugnis vor Gericht nichts wert, nicht in diesen schweren Zeiten, das würden die Richter eher zum Nachteil verdrehen.
- Hör auf, dich aufzureiben, sagt
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