Mein Jahr als Mörder
Grete, komm in die Partei und lass die Partei für dich kämpfen!
- Ich will selber entscheiden, sagt sie, was richtig ist. Und Georg sagt mir, was richtig ist. Ich wehre mich nur gegen das Unrecht, so wie wir uns vor zehn Jahren auch gewehrt haben.
- Aber sie machen dich fertig, du bist völlig erschöpft, deine hundert Prozesse, deine Arbeit, die Kinder, das ist zu viel, du schaffst das nicht.
- Ich schaff das, auch ohne Partei.
Sie kann in vier Wochen die Beweise nicht liefern, so muss der Anwalt den Verwaltungsrichtern die Sache mit der Tarnung erklären und flehen: Die Gerechtigkeit und der gesunde
Menschenverstand verlangen, daß das Gesetz nicht formalistisch, sondern sinnentsprechend angewandt wird. Wer zur Tarnung in eine Gliederung der NSDAP eingetreten ist, um seine illegale Tätigkeit ungestört fortsetzen zu können, kann nicht unter § 6 des Anerkennungsgesetzes fallen.
Die Gerechtigkeit! Der Hydra kommen die Tränen. Der gesunde Menschenverstand! Da lacht der Drache mit allen neun oder neunundzwanzig Köpfen. Und lässt, keine drei Wochen später, den Hydrakopf beim Senator für Sozialwesen die nächste Ladung Gift in die Lindenallee spritzen.
Sie werde, das reibt man ihr noch einmal unter die Nase, nicht mehr als politisch oder rassisch Verfolgte anerkannt. Infolgedessen verlieren auch die Kinder den Rentenanspruch.
Was bleibt ihr, wenn sie nicht in Kohlhaas'schen Wahn fallen will, anderes übrig, als eine neue Klage einzureichen, wieder beim Verwaltungsgericht? Gegen die Lügen der Ämter, gegen die Leugnung des Widerstands, gegen die Sippenhaft, gegen die drückende Armut?
Die Hydra lässt sich Zeit, lässt sie zappeln. Und belehrt sie, ein ganzes langes Jahr später, die Versorgung der Halbwaisen sei nur eine Kann-Bestimmung, sie hätte da keinen Rechtsanspruch. Zweitens müsse sie ihre soziale Bedürftigkeit beweisen. Drittens, selbst wenn sie bedürftig wäre, höhnt die Hydra, könnte sie ihre wirtschaftliche Lage ganz leicht verbessern: Sie gehöre doch, spottet die Hydra, jenem Personenkreis an, der die demokratische Staatsform bekämpft und sich für das Weiterbestehen des totalitären Systems im sowjetisch besetzten Gebiet einsetzt. Sie kann daher ihre wirtschaftliche Lage dadurch verbessern, daß sie in dieses Gebiet übersiedelt.
Abhauen? Aufgeben? Ab in die Zone? Die Versorgungsgesetze, höhnt die Hydra, sollen nur denjenigen zugute kommen, die der gesteigerten Fürsorge des Landes Berlin würdig sind. Sie habe durch ihre politische Tätigkeit für das sowjetdeutsche Regime ihre wirtschaftlichen Verhältnisse selbst verschlechtert.
Bleib ruhig, sagt sie sich, schrei nicht, wirf dich nicht vor die U-Bahn. Sie wollte die Hydra besänftigen, nur Ruhe haben, aber nach den Aufständen des 17. Juni, merkt sie jetzt, ist das vielköpfige Hundetier noch weniger zu beruhigen als vordem, es verschärft den Ton, verstärkt die Giftmischung, gibt keinen Zentimeter nach und wird es nie tun.
Auch das ist ihr klar: Nach den Aufständen des 17. Juni geht sie erst recht nicht in den Osten. Und auf Befehl der Hydra für Sozialwesen schon gar nicht.
Erinnert sich noch jemand, fragt sie sich, wie mein Verbrechen anfing? Dass ich mich auf die Verfassung berufen habe? Und die ändern auf einen Naziparagraphen?
Oskars Buttermarken
Wer sich zu einem Geständnis verführen lässt, neigt schnell dazu, seine Tat auszuschmücken und mit Beispielen für Mut, Weitblick und beste Absichten zu garnieren. Mir geht es anders, ich sehe mehr und mehr, was für ein Stümper oder Versager ich gewesen bin. Was hätte ich zum Beispiel aus dem Mann herausholen können, den wir Hüthchen nannten, einem tüchtigen Säufer und Großmeister des Widerstands! Der trieb sich im Umkreis des Dichters Fuchs herum, in schnapsgesättigter Anarchie und fröhlicher Rebellion gegen bürgerliche und polizeiliche Regeln.
Wie ich mitten in diesen rohen Zeiten der Demonstrationen, Streiks und Gewaltdebatten, in den Monaten des rot gefärbten Mitleids mit Jan Pa lach, mit Tschechen und Vietnamesen, mitten in den Groscurth-Plänen und in der zielgerichteten Wut auf die Skandale der Berliner Richter, wie ich zwischen Romanlektüre und Catherines Bett mich noch auf den weiten Weg zu Lesungen machte, kann ich mir heute kaum vorstellen. Aber ich fuhr, ein Beispiel, zu Manfred Bieler und Günter Bruno Fuchs ins Haus am Waldsee nach Zehlendorf, und ein paar Stühle weiter lacht Oskar Huth, und ich Idiot sprech ihn nicht mal an!
Das Datum
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