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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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steht im Taschenkalender, es spielt keine Rolle, aber es war während der Hochkonjunktur der Prinzipienreiterei, als die Simpelköpfe aus dem eben erschienenen Kursbuch 15 den Tod der Literatur herauslasen, in der Zeit, als das Schreiben zumindest nützlich zu sein hatte und in der fast keine Lesungen stattfanden, weil jeder Veranstalter Störungen fürchtete. Und da saßen wir einen Abend, fünfzig, sechzig Leute, und lachten uns krumm. Erst über die Parodien von Bieler, der drei Jahre zuvor aus der DDR nach Prag und nun nach dem Einmarsch der Russen nach München geflohen war, dann über die Spaße und Kalauer von Fuchs. Es gab solche Stunden, in denen ich vergaß, dass ich bis gestern noch ein Mörder werden wollte.
    Trotzdem gehört dieser Abend in meine Beichte, weil wir danach, zwanzig, dreißig Leute, von der Literatur aufs schönste beschwingt, in einer Kneipe im südlichen Zehlendorf direkt an der Mauer uns sammelten und mein Freund Hannes auf Oskar Huth, genannt Hüthchen, den Klavierstimmer, zu sprechen kam, das schmale laute Männchen, das mit Fuchs und Bieler am Nebentisch saß.
    Schreibt der eigentlich auch?, hatte ich gefragt. Nein, wird Hannes gesagt haben, alle Freunde drängen ihn zu schreiben, der hat wirklich Romane erlebt. Aber er weigert sich. Der hat den Krieg überstanden, in Berlin, ohne Soldat zu sein, das musst du dir von ihm erzählen lassen. Der hat sich nicht nur vor der Wehrmacht gedrückt, der hat sich versteckt mit falschen Papieren, der hatte eine Druckmaschine und hat Ausweise gefälscht und Lebensmittelkarten gedruckt und verteilt, an die Juden, an versteckte Leute, unglaubliche Geschichten, und wenn er in Fahrt kommt, dann lachst du sogar über die Nazischeiße.
    In Gedanken war ich sofort bei den Groscurths und der Europäischen Union, vielleicht gab es da Verbindungen. Ich kannte nur das Gerücht, Hüthchen hätte irgendwas gegen die Nazis gemacht, nun staunte ich ihn an, und wie ich mich kenne, muss ich vor Ehrfurcht erstarrt sein. Ein pfiffiges, faltiges, schmales Gesicht über dem Schnurrbart, das wäre ein Gesicht für Catherine gewesen, ein Ruinengesicht, aber ein fröhliches. Seine glorreichen Taten sah man ihm nicht an, so einer liebte die Glorie nicht. Auch nach dem zweiten Bier wagte ich nicht, näher heranzupirschen, er trank, er trank viel, er rühmte sich als freischaffender Trinker, ich war kein Säufer und wollte keiner werden, außerdem hatte ich das Auto vor der Kneipe stehen. Natürlich konnte ich ihn nicht einfach nach Journalistenart anquatschen: Na, Herr Huth, wie war's denn so im Widerstand? Der hätte mich geohrfeigt, für das Na, das Herr, das Sie und für die Frage sowieso. Meine einzige Chance war, den Stuhl an den Nachbartisch zu rücken und mich dem listenreichen Klavierstimmer wenigstens bekannt zu machen, um bei besserer Gelegenheit auf den Busch zu klopfen.
    Nicht einmal das schaffte ich, obwohl es ein langer Abend wurde. Was mich hinderte, war nicht nur die Scheu, den guten Mann für meine Zwecke auszubeuten. Da war Angst im Spiel vor einem schwer berechenbaren Säufer, dann die Schüchternheit vor einer Figur, die in sechs Jahren Krieg wahrscheinlich mehr Mut gezeigt hatte als alle hier trinkenden Dichter, Dichterfreundinnen und Dichterfreunde zusammen. In Wahrheit aber, das begriff ich erst später, fürchtete ich mich vor mir selbst, vor meinem Dilettantismus als Fragensteller. So gehemmt war ich, dass mir nicht mal der Einfall kam, mich hinter Catherine zu verstecken, mit ihr und der Kamera bei Oskar aufzutauchen und dann loszufragen.
    In meiner unzuverlässigen Erinnerung endet der Abend mit Bielers Aufforderung: Kommt, jetzt pissen wir alle an die Mauer! Und ich sehe uns in der nicht sehr kalten Nacht die paar Meter hinüber zur Mauer wanken, ein gutes Dutzend Männer, und gegen den Beton pinkeln. Ein Witzbold, wir waren eine Horde von Witzbolden, würzte die Taufe mit dem alten Klospruch: Näher ran, er ist kürzer, als du denkst!
    Schon auf der Fahrt nach Hause, höchstens vier Bier geschluckt, ärgerte ich mich über meinen mangelhaften Forschungstrieb und fasste, wie immer, wenn ich spätabends allein war, die tollsten Vorsätze. Oskar ausfragen, möglichst bald. Alle irgendwie greifbaren Leute aus dem Umkreis der Groscurths anschreiben, anrufen, besuchen, ausfragen, zuerst Frau Rentsch und Frau Richter. Und weiter, irgendwo müssen sie aufzuspüren sein in Berlin, die versteckten Juden, die überlebt haben, und die Leute, die sie

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