Mein Jahr als Mörder
versteckt haben, warum kennt die keiner? Warum sind die heute immer noch versteckt? Ich wusste sogar, wo ich anzufangen hätte, bei Annelieses Freunden, den Blochs. Sie Taxifahrerin, er Jude und Kommunist, sie versteckt ihn in ihren anderthalb Zim-mern, sie haben Glück, tausendmal Glück, werden ein Paar, leben bei Anneliese um die Ecke, immer noch in den anderthalb Zimmern im Horstweg - was für Dramen mit Happyend wären da aufzublättern, was für Schätze wären da zu heben!
Nichts davon tat ich. Außer mit Frau Groscurth habe ich mit niemandem geredet, der im Widerstand war, nicht einmal mit den Witwen Rentsch und Richter. Gewiss, ich konnte mich nicht in einen Historiker verzaubern, einen Feld- und Heimatforscher, der mit Tonband und Papier herumzieht und jeder Spur und jedem Namen folgt. Ich wollte mir, das war ja vernünftig, nicht noch mehr aufladen, meine Pläne nicht endlos weiterwuchern lassen, doch das ist keine Entschuldigung. Ich hätte ja auch, statt einem verstockten alten Nazirichter nachzujagen und Beweise gegen ihn zu sammeln, die stillen Versteckten und die unentdeckten Helfer suchen, befragen, rühmen können, wie es erst fünfzehn, zwanzig, dreißig Jahre später nachgeholt wurde. Oder ich hätte andere anstoßen können, solche Recherchen anzufangen. Aber ich habe, zugegeben, nur an mich gedacht. Und wer nach meiner Schande sucht, hier liegt sie, in der Trägheit des Egoismus, nicht im Mord.
Das meine ich mit Versager: Da ist ein junger Mann, der unter falschem Namen mit selbst gefälschten Papieren unter lauter Nazis in der Wohnung einer evakuierten Freundin lebt, kein Geld hat und im Jahr 42 beschließt, mit Hilfe einer Druckmaschine, einer lithographischen Handpresse, zu überleben. Er versteht was vom Fach, er darf nicht als Hochstapler, er muss als Tiefstapler auftreten. Er gibt sich als technischer Zeichner der Dahlemer Museen aus und fragt in den Berliner Druckereien herum, ob irgendwo solche alten Maschinen herumstehen. Nach endlosen Laufereien endlich ein Tipp, er gerät an einen Chef, der kein Nazi zu sein scheint. Allein die Mühe, so zu reden, dass der einen nicht gleich rausschmeißt, so zu reden, dass der einen nicht als Spitzel verdächtigt, so zu reden, dass man als Fachmann für Druckmaschinen überzeugt, so zu reden, als sei man ein Legaler, so zu reden, dass der Chef persönlich mit in den Keller geht, so zu reden, dass der die kleinste, sogar zerlegbare Maschine anbietet, so zu reden, dass der die fast umsonst abgibt und auch noch die Handkarre leiht, mit der dieser junge Mann die Presse, neun Zentner immerhin, allein durch halb Berlin bis in seinen Keller wuchtet, wobei ihm noch der schärfste Nazi des Hauses hilft, dann Papier beschafft, Buttermarken druckt, verscheuert und verschenkt und in endlosen Fußmärschen durch das zerbombte Berlin an versteckte Leute liefert - und so ein Mann sitzt zwei Meter neben dir, und du schaffst es nicht, ihn zum Erzählen anzustiften, keine einzige seiner märchenhaften Erinnerungen aus ihm herauszulocken. Ein anderer hat sie viel später aufgeschrieben, aber du liest sie erst in den neunziger Jahren, als er tot ist, der Charlie Chaplin des Widerstands.
Fata Morgana auf dem Teufelsberg
Über Nacht waren zwei, drei Zentimeter Schnee gefallen, der letzte Schnee des langen Winters. Bei kaltem, klarem Wetter bot der Teufelsberg die schönste Abwechslung und die weitesten Aussichten über Mauern und Grenzen. Catherine war guter Laune, vielleicht weil sie entschieden hatte, ohne mich nach Mexiko zu reisen, vielleicht freute sie der Schneefilm mit seinen Reizen und Kontrasten. Sie hatte die Kamera dabei, wir stiegen den kleineren der beiden Trümmerhügel hinauf, sie fasste meine Hand.
Sobald wir auf dem glatten Weg die Höhe der Baumkronen des Grunewalds erreicht hatten, schien die Luft noch klarer, und mit jedem Schritt zeigte das weiche Fernbild der Stadt deutlichere und plastischere Konturen. Dächer, Kirchtürme, Hochhäuser, Schornsteine, Gasometer, der schmale und endlos weite Streifen der vom Schnee gesprenkelten Stadtlandschaft unter dem hellen Winterhimmel, alles kam mir so nah wie entrückt, so greifbar wie entfernt vor, dass ich, beinah erschrocken vor dem gewohnten Anblick, meine empörte Erzählung über Anneliese Groscurths Richter unterbrach. Die Sicht vom Westen auf den Westen reichte bis weit in den Osten hinein, der die Mitte war, im fernsten Dunst neben der Siegessäule der neue Fernsehturm.
Berlin lag wie eine Fata
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