Mein Katalonien
Die Divisionen wurden aus »gemischten Brigaden« gebildet, die teils aus Soldaten der Volksarmee und teils aus der Miliz bestehen sollten. Aber in Wirklichkeit wurden nur die Namen geändert. So waren jetzt beispielsweise die P.O.U.M.-Truppen, die vorher Lenin-Division genannt wurden, die 29. Division. Bis zum Juni kamen nur sehr wenig Truppen der Volksarmee an die aragonische Front, folglich konnte die Miliz ihre eigene Struktur und ihren besonderen Charakter erhalten. Aber die Propagandisten der Regierung hatten schon auf jede Mauer gemalt: »Wir brauchen eine Volksarmee.« Im Rundfunk und in der kommunistischen Presse lief ununterbrochen und manchmal bösartig die Hetzkampagne gegen die Miliz, der vorgeworfen wurde, sie sei schlecht ausgebildet, undiszipliniert und so weiter. Die Volksarmee wurde immer mit dem Beiwort »heroisch« beschrieben. Auf Grund eines guten Teils dieser Propaganda mußte man den Eindruck gewinnen, es sei schändlich, freiwillig an die Front gegangen zu sein, und lobenswert, zu warten, bis man eingezogen würde. Zur Zeit jedoch hielt die Miliz die Front, während die Volksarmee in der Etappe übte. Das durfte natürlich sowenig wie möglich bekanntgemacht werden. Abteilungen der Miliz, die zur Front zurückkehrten, ließ man nicht mehr mit Trommelklang und fliegenden Fahnen durch die Straßen marschieren. Sie wurden früh um fünf Uhr mit der Eisenbahn oder mit Lastwagen hinausgeschmuggelt. Einige Abteilungen der Volksarmee marschierten nun auch zur Front, sie wurden wie vorher mit allen Zeremonien durch die Straßen geschickt. Aber selbst ihnen gegenüber zeigte man infolge des schwindenden Interesses am Krieg verhältnismäßig wenig Begeisterung. In der Zeitungpropaganda wurde erfolgreich die Tatsache ausgeschlachtet, daß die Milizen zumindest auf dem Papier Truppen der Volksarmee waren.
Jedes mögliche Verdienst ging automatisch auf das Konto der Volksarmee, während jeder Tadel den Milizen angelastet wurde. Es geschah manchmal, daß dieselben Truppen in der einen Eigenschaft gelobt und in der anderen getadelt wurden.
Über diese Veränderungen hinaus gab es aber einen bemerkenswerten Wechsel in der Atmosphäre der Gesellschaftsordnung – etwas, das man sich schwer vorstellen kann, es sei denn, man hat es wirklich erlebt. Als ich zum erstenmal nach Barcelona kam, glaubte ich in einer Stadt zu sein, in der Klassenunterschiede und große Unterschiede im Wohlstand kaum existierten. So sah es tatsächlich aus. »Feine« Kleider waren etwas Ungewöhnliches, niemand war ein Kriecher oder nahm ein Trinkgeld an. Kellner und Blumenverkäuferinnen und Schuhputzer schauten jedem in die Augen und sprachen ihre Kunden mit »Kamerad« an. Ich hatte nicht begriffen, daß diese Erscheinung vor allem eine Mischung aus Hoffnung und Tarnung war. Die Arbeiterklasse glaubte an eine Revolution, die begonnen, aber nie gefestigt worden war. Die Bourgeoisie hatte Angst und verkleidete sich vorübergehend unter der Maske der Arbeiter. Während der ersten Monate der Revolution muß es viele tausend Menschen gegeben haben, die absichtlich Overalls anzogen und revolutionäre Phrasen schrien, um auf diese Weise ihre Haut zu retten. Jetzt aber kehrte alles wieder zum Normalen zurück. Die feinen Restaurants und Hotels waren voll reicher Leute, die teure Mahlzeiten herunterschlangen, während die Lebensmittelpreise für die arbeitende Bevölkerung ohne eine entsprechende Erhöhung der Löhne phantastisch in die Höhe gesprungen waren. Außer der allgemeinen Teuerung herrschte dauernd Mangel an diesem und jenem, was natürlich die Armen härter traf als die Reichen. Die Restaurants und Hotels hatten anscheinend wenig Schwierigkeiten, zu bekommen, was sie wollten. Aber die Schlangen nach Brot, Olivenöl und anderen Notwendigkeiten in den Quartieren der Arbeiterklasse waren manchmal Hunderte von Metern lang. Zuvor hatte ich über die Abwesenheit von Bettlern in Barcelona gestaunt, jetzt sah ich sie in großen Mengen. Vor den Delikatessenläden am oberen Ende der Rambla warteten immer ganze Banden barfüßiger Kinder, um den hinaustretenden Käufern nachzulaufen und sie um ein paar Brocken Lebensmittel anzuhalten. Die »revolutionären« Floskeln der Sprache wurden nicht mehr gebraucht. Fremde sprachen jetzt nur selten jemand mit ›tú‹ und ›camarada‹ an, normalerweise war es ›señor‹ und ›usted‹. ›Buenos días‹ begann ›salud‹ zu ersetzen. Die Kellner trugen wieder Frackhemden, und die
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