Mein Koerper und ich - Freund oder Feind
Sie litt natürlich überhaupt nicht. Wie sollte sie auch unter etwas leiden, wovon sie überhaupt nicht wusste, dass es das gibt und was es ist: Einfühlungsvermögen für sich selbst und andere. Ihre Tochter litt allerdings umso mehr. Wenn ein Kind geboren wird, ist es auf die Empathie seiner Mutter – seines Vaters oder einer anderen nahen Person – angewiesen, weil es noch nicht sagen kann, was es braucht. Das kleine Mädchen, nennen wir es Stephanie, wuchs dennoch heran und versuchte, soweit man das im Rückblick rekonstruieren kann, seine Mutter auf sich aufmerksam zu machen: Sie war frech, verwahrloste ihr Kinderzimmer, hielt dort jede Menge Mäuse – vor denen sich ihre Mutter fürchtete –, wurde magersüchtig und dann richtig krank und nicht mehr gesund. Als ihr als Folge davon ein Bein bis zum Knie amputiert werden musste, kam die Mutter nicht einmal zur Operation ins Krankenhaus gefahren – das musste die Tochter auch allein durchstehen. Die Begründungen waren immer: »Keine Zeit, zu viel Arbeit, immer habe ich Sorgen mit dir, kann es denn bei uns nicht mal normal laufen wie in anderen Familien, wieso habe ich immer so viel am Hals usw.« Die Tochter, mittlerweile 22 Jahre alt, sehr intelligent, begabt, vital – keine, die so leicht aufgibt –, war nach einigen vergeblichen Reha-Versuchen und mit immer noch großen Schmerzen, die sich schlecht therapieren ließen, für einige Zeit wieder zu Hause. Und da geschah es: Sie wurde richtig verrückt, drehte durch, war nicht mehr bei sich, wurde extrem aggressiv, bedrohte ihre Mutter gewalttätig und kam direkt in die geschlossene Abteilung einer nahe gelegenen Psychiatrie, wo sie leider auch noch einen netten Pfleger in den Arm biss und schwer verletzte. Sie selbst merkte davon nichts, war fast drei Wochen lang nicht so recht bei sich, kann sich auch heute an nichts erinnern – gottlob!
Diese Zeit und ein derart verwirrter Zustand reichten aus, um ihrer Mutter einen so schweren Schock zuzufügen, dass sie aus ihrer Abgewandtheit erwachte und hinschaute. Sie war völlig verunsichert, machte sich Sorgen, kam herbei, wusste nicht, was sie den Leuten und der Verwandtschaft sagen sollte – zumal sie nicht wusste, wie lang diese Verrücktheit anhalten würde. Auch der Psychiater wusste es nicht – auch nicht, was für eine Diagnose er stellen sollte. Als Stephanie nach etwa drei Wochen so nach und nach wieder zu sich kam, rief er mich an, um sich zu beraten, ob das wohl eine psychotische Episode gewesen sein könnte – was wir aber beide nicht annahmen. Stephanie erholte sich rasch, wurde wieder so normal, wie sie immer gewesen war, und verwunderte sich sehr über ihre schrecklichen Taten, die man ihr berichtete, entschuldigte sich bei dem Pfleger, besichtigte die zurückgebliebene Narbe und sagte: »Dass man mit den Zähnen so viel Kraft hat.«
Nun, das vorläufige Ende der Geschichte: Die Mutter ist immer noch einigermaßen gefühlsblind für sich selbst, aber nicht mehr so gravierend unempathisch gegenüber ihrer Tochter. Sie kümmert sich mehr um Stephanie, hört ihr manchmal zu, versucht, ihr entgegenzukommen, wo immer es geht, und nimmt sie zur Kenntnis. Und siehe da: Das Blatt hat sich gewendet. Die Reha macht Fortschritte, die Schmerzen sind erträglich, das Leben greift um sich. Und erst jetzt ist es dieser Tochter möglich, von zu Hause weg und ihre eigenen Wege zu gehen – zwar mit einer Beinprothese, aber immerhin. Das Schöne an der Geschichte: Stephanie, die viele Jahre lang ebenfalls überhaupt keinen Selbstbezug, keine Fürsorge für sich selbst hatte – von wem hätte sie es denn auch lernen sollen –, fing im Laufe der Therapie, aber besonders als Antwort auf die beginnende Fürsorge ihrer Mutter an, zu merken, was sie selbst braucht, um gut durchs Leben zu kommen. Jedoch, zu welch hohem Preis!
In der psychoanalytischen Therapie, in der die Träume des Patienten einen »Königsweg« zu seiner Psyche darstellen und die spontanen Äußerungen über sich selbst, die dem Patienten in der Therapiestunde einfallen, als therapeutisches Material dienen, sind alexithyme Menschen nicht gern gesehen. Es fällt ihnen oft nichts ein, sie zermartern sich schon vorher den Kopf, was sie denn die ganze Stunde erzählen sollen. Denn die verschütteten Emotionen, die sich in den Winkeln der psychischen Innenräume verbergen, sollen hervorgeholt und ins helle Licht des Bewusstseins gebracht werden, damit man sie anschauen und erklären bzw. deuten
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