Mein Leben im Schrebergarten
und sie nicht gefunden haben. Unser Kater brauchte nur fünf Minuten. Dann ging er in die Küche und pinkelte in das Trockenfutter. Seitdem steht der Katzenbaum im Kinderzimmer und dient als Buch- und Puppenregal. Nein, Bäume gehören definitiv nicht in eine Wohnung! Auch finde ich es demütigend, sich in eine Pflanze zu verknallen. Man darf nicht den ganzen Sinn seines Lebens an einen Baum hängen.
Das zweite Buch, das ich gekauft hatte, Leben in den Wäldern von Henry Thoreau, hatte ich schon als Jugendlicher in Moskau gelesen. Der Autor, ebenfalls auf Sinnsuche, war mit den damals herrschenden Moralvorstellungen der amerikanischen Gesellschaft unzufrieden. Eines Tages lieh er sich bei einem Nachbarn eine Axt, ging in den Wald und baute sich dort eine kleine Hütte am Ufer eines Sees. Dort lebte er zwei Jahre und zwei Monate lang, von der Außenwelt abgeschnitten, von den Früchten seiner Arbeit. Er hatte mehr mit Bäumen als mit Menschen zu tun, las Bücher, pflanzte Bohnen an, betrachtete die Sonnenaufgänge über dem See und dokumentierte sein Treiben in der Wildnis sorgfältig. Sein Buch, eine Mischung aus Gesellschaftskritik, Philosophie, landwirtschaftlichen Experimenten, Einkaufszetteln und Gedichten, wirkte auf mich vor zwanzig Jahren wie eine Art poetische Hippie-Lektüre unter dem Motto: »Wie wenig braucht der Mensch, um glücklich zu sein!«
Sieh da, die kleine Hütte,
Die dem Zerfall geweiht,
Hier hat wohl
Einst ein Dichter
Vergessen Welt und Zeit.
Doch heute las ich das Buch mit anderen Augen. Ich wusste inzwischen, dass Thoreau seine glückliche Hütte nicht selbst gebaut, sondern für achtundzwanzig Dollar einen Zimmermann damit beauftragt hatte. Doch vieles, sehr vieles sogar, was mich in der letzten Zeit unruhig gemacht hatte – das Angewidertsein vom Fernsehen, meine Ablehnung der Nachrichten aus aller Welt sowie die seltsame Anziehungskraft, die der Schrebergarten auf mich ausübte –, fand ich in diesem Buch wieder. Thoreau war kein Hippie. Damals, vor fast zweihundert Jahren, sprengte er mit seiner Entscheidung, im Wald zu leben, die Grenzen des kommoden Kabinetts, das man ihm zugewiesen hatte. Er war sich sicher, dass man nur dann seinem Traum nahekommen kann, wenn man aus den gewohnten Verhältnissen ausbricht. Aber wohin?
Diese Problematik war heute noch aktuell. Viele meiner Kollegen suchten die Wildnis weit draußen. Mit Billigfliegern legten sie tausende von Kilometern zurück, sie flogen nach Sibirien, um die russische Seele zu erforschen, oder nach Afrika, um dort Giraffen zu jagen und auf diese Weise ihre ganz persönliche Wahrheit zu finden. Anschließend schrieben sie Bücher, bei denen auf dem Cover stand, der Autor habe gleichzeitig in der Schweiz, im Senegal und in Katmandu gelebt. Doch zwischen den Zeilen blickte aus diesen Büchern die immergleiche Unbedarftheit, das kindliche Warten auf ein Wunder am anderen Ende der Erde, das unersättliche Ich, das die ganze überflogene Welt auf flüchtige Bekanntschaften, Geldwechseln und Kopfschmerzen reduzierte. War es das Kerosin wert, das für die Langflüge verbraucht wurde? War unser Inneres nicht der wahre weiße Fleck auf der Karte? Und war eine Wildgans, die in Sibirien frühstückte und in Kanada Kaffee trank, nicht sowieso hundertmal mehr ein Weltbürger als die Katmandu-Touristen?
Wie lange kann ein Mensch einer Giraffe hinterherjagen?, fragte sich Thoreau.
Sind Schwulenparaden und Bärenverfolgung wirklich die Probleme, die die Menschheit am tiefsten berühren?, fragte ich mich.
Warum nicht jeden zu der Musik tanzen lassen, die er hört?, fragten wir im Chor.
Thoreau ging nicht um jemandem etwas zu beweisen in den Wald, er brauchte einen neuen Standpunkt für seine Lebensforschung. Beeindruckt von seinem Werk, beschloss ich kurzerhand, in die Fußstapfen des großen Philosophen zu treten und ebenfalls in die Natur zu ziehen. Natürlich nicht für mehrere Jahre in einen Wald, sondern nur für ein paar Tage und Nächte in meinen Schrebergarten.
7 - Mein Leben im Schrebergarten
Die Entscheidung, ganz in den Schrebergarten zu ziehen, stieß auf massive Proteste der Familienangehörigen. »Wie jetzt? Und ich soll hier allein leben wie eine Witwe?«, regte sich Olga auf, als ich meine Absichten bei einem Familienessen preisgab. Die Kinder schlugen sich auf die Seite der Mutter: Sie bräuchten mich als Vater. Meine Tochter wollte, dass ich ihr half, ihren ersten Roman, Das doofe Kaninchen , in
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