Mein Leben im Schrebergarten
die an Parteidokumente aus dem vorigen Jahrhundert erinnerte. »Parzellen Nr. 56 bis 58! Ihre Gärten sind völlig verwildert! Das Gras meterhoch! Die kleingärtnerische Nutzung ist nicht erkennbar. Parzelle Nr. 79! Man kann nicht einmal den Eingang Ihres Gartens finden! Parzelle Nr. 90! Trotz der stark verschmutzten Fenster sind zerrissene Gardinen gut erkennbar!« Über unser Grundstück hieß es: »Dieser Garten wurde erst kürzlich an den neuen Pächter übergeben. Auf der Seite links zum Nachbarn wurde eine Ligusterhecke gepflanzt. Das ist laut Gartenordnung nicht statthaft. Auch die Korkenzieherweiden gehören nicht in den Kleingarten. Da die Pächter offensichtlich die Gartenordnung nicht gelesen haben und keine Einsicht zeigen, wird eine Vorladung zur Sprechstunde notwendig. Bei der Gartenbegehung war niemand anwesend.«
Ich schimpfte leise und malte mir aus, was ich mit diesem Vorstand machen würde, wenn ich nicht Schriftsteller, sondern ein unsichtbarer Spiderman wäre. In diesen angenehmen Gedanken versunken, ging ich weiter und stieß auf einen schmalen Weg hinter dem Vereinshaus, den ich bisher übersehen hatte. Er führte über eine kleine Brücke und weiter in eine Gegend, in der ich noch nie gewesen war. Je länger ich lief, umso beeindruckender erschien mir die Gartenkolonie. Ich hatte bisher keine Ahnung gehabt, wie riesig sie eigentlich war. Gärten über Gärten bis an den Horizont. Ich bog einmal links und einmal rechts ab, in der Hoffnung, an die Grenzen der Kolonie zu stoßen, an einen letzten Zaun mit Tor. Doch hinter jeder neuen Ecke entfalteten sich neue Gartenanlagen, mit und ohne Rosen, mit und ohne Gartenzwerge, mit und ohne Korkenzieherweiden.
Langsam wurde es dunkel, Brasilien hatte längst gewonnen, es war kein Mensch mehr auf den Terrassen zu sehen. Ich kehrte um. Die Brücke über einen kleinen Bach sollte mir als Orientierung dienen, sie war aber nicht mehr zu finden. Stattdessen sah ich immer wieder die gleichen Lauben. Langsam beschlich mich das Gefühl, mich in einem völlig unbekannten Land verlaufen zu haben, in einem Parallel-Deutschland, das friedlich neben dem mir bekannten existierte: das eine ein Land der Städte, mit prächtigen Theaterhäusern und neu gebauten Bahnhöfen, Mitglied der UNO, UNESCO, G8 und C4, mit Vorsitz bei der Weltbank und im Weltsicherheitsrat, mit Vertretungen im nahen und fernen Ausland. Und das andere Deutschland ein riesengroßer Schrebergarten. Wie oft habe ich auf meinen Reisen dieses andere Deutschland aus dem Zugfenster beobachtet, mit seinen Lauben, Schaukeln, Grillanlagen und Kindern, die einander mit einem Wasserschlauch nass spritzten.
Einmal, als ich mit einem russischen Kollegen im Zug saß, meinte dieser anerkennend, es werde in Deutschland doch viel für die Kinder getan. Er zeigte dabei auf Schrebergärten, die er wegen der vielen kleinen Häuschen für Kinderspielplätze hielt. Auf die Idee, dass sich spielwütige Erwachsene dort aufhielten, war er nicht gekommen. Wenn ich ihm den Sinn dieses Spiels nahegelegt hätte – um jeden Preis die Kräuter in einer Linie zu pflanzen und den Rasen zu mähen, ob mit Strom oder Muskelkraft, aber nicht an Sonn- und Feiertagen –, er hätte mir bestimmt nicht geglaubt. Erst recht nicht, wenn ich ihm noch erzählt hätte, beim letzten Rasenmähen sei mir die Verlängerungsschnur unter die Scheren geraten, und es habe einen solchen Knall gegeben, dass alle Birnen vom Baum meines Nachbarn Günther Grass auf mein Grundstück gefallen seien und nun mir gehörten, weil laut deutscher Gartenverfassung jede vom Baum gefallene Frucht dem Gartenbesitzer gehört, auf dessen Grundstück sie liegt. Der Baumbesitzer kann zwar innerhalb von zwei Wochen eine Beschwerde einreichen, aber bis dahin ist längst alles aufgegessen.
Ich hätte noch einiges zu erzählen über die Deutschen und ihre Schrebergärten – mein Bekannter wäre wahrscheinlich vor Lachen aus dem Zug gefallen. Kann es sein, dass dieses andere Deutschland der Gärten untereinander vernetzt ist, mit Wegen und Straßen, die auf keiner Karte eingezeichnet sind und die kein Navigationssystem kennt, und dass ich, wenn ich so weiterlaufe, mit Glück irgendwo bei Braunschweig wieder herauskomme? Ich dachte bereits über Plan B nach, das heißt in einen fremden, leer stehenden Garten einzudringen, um dort zu übernachten. Es wurde langsam kalt. Ich tat mir selbst leid. Vielleicht ist es mein Schicksal, durch wildfremde Gärten zu ziehen,
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