Mein Leben im Schrebergarten
den Schweiß von der Stirn wischen. Ich war von seiner Auslegung des gemeinsamen Urlaubs etwas überrascht, versicherte jedoch der Lehrerin, dass Sebastian stark übertrieben hätte. In Wahrheit sei unsere Russlandreise völlig unspektakulär, geradezu ereignislos verlaufen, klärte ich sie auf. Bei Oma hatte es nur einmal gebrannt, und mit den wütenden Eiszeitmenschen hatte Sebastian wahrscheinlich Omas Nachbarn gemeint, weil sie lange Bärte, Westen aus Schafspelz und manche sogar Peitschen unter dem Gürtel trugen. Es seien aber gutmütige Menschen und alte Freunde von uns. Wir würden uns schon seit der Eiszeit, also noch aus der Zeit des Kalten Krieges kennen, und ich würde ihr beim nächsten Mal Fotos von ihnen zeigen.
Die Kinder aus Sebastians Klasse hörten neidisch zu. Die Geschichte von den Eiszeitmenschen hatte sie fasziniert, und sie wollten unbedingt die Fotos sehen. Ihre Klassenlehrerin nickte nur stumm, lächelte und glaubte mir kein Wort. Sie war nicht neu an der Schule und wusste bereits, wie sinnlos es war, mit Eltern über die Macken ihrer Kinder zu sprechen. Denn das meiste haben die Kinder ja von ihren Eltern abgeguckt, den Rest von Harry Potter und Der Herr der Ringe. So neige auch ich dazu, das Leben abenteuerlicher darzustellen, als es ist.
Der Apfel fällt nicht weit vom Baum, dachte die Klassenlehrerin wahrscheinlich, und hatte recht. Man musste nur bei uns über den Gartenzaun schauen, um sich von der Richtigkeit dieser Weisheit zu überzeugen. Dort fielen die Äpfel täglich zu Hunderten und blieben unter den Bäumen liegen; wir waren kaum imstande, das ganze Fallobst aufzusammeln. Der Kompostbehälter quoll bereits über, die Mülltonne war mit den vergammelten Äpfeln ebenfalls überfordert, und alle Eimer und Tüten in der Laube waren voll. Dabei sind wir so gut durch den Sommer gekommen: Der Rhabarberfrage waren wir erfolgreich ausgewichen, die Johannisbeerfrage war geklärt, die Kirschen- und Pflaumenfrage mit den vereinten Kräften aller Familienangehöriger beantwortet worden. Selbstgefällig dachten wir schon, nichts und niemand könne unser Gartenleben noch aus dem Gleichgewicht bringen.
Die Freude währte jedoch nicht lange. Eine gewaltige Apfelfrage bahnte sich am Horizont an, die uns unter den Erzeugnissen unseres eigenen Gartens zu begraben drohte. Ich rief Freunde und Verwandte an, flüchtige Bekannte und Schreibkollegen, das ganze Telefonbuch querdurch. Ich brauchte dringend Menschen, die Äpfel mochten und möglichst viele davon essen konnten. Meine Bemühungen waren nicht erfolgreich. Entweder waren die Freunde noch nicht aus dem Urlaub zurückgekehrt, oder sie mochten kein Obst. Nur meine Tante in Kreuzberg freute sich über mein Angebot. Sie hätte um diese Jahreszeit früher in Odessa immer leckeren Apfelkuchen gebacken, meinte sie. Diese Tradition wollte sie nun in Berlin wiederbeleben, deswegen würde sie am Wochenende zu uns in den Garten kommen und drei nehmen.
»Was drei?«, schrie ich aufgeregt in den Hörer. »Drei Säcke? Drei Zentner?« Meine Tante wollte jedoch nur drei Äpfel. Entgeistert platzte mir beinahe der Kragen. Zum Glück waren wir nicht allein von der Apfelfrage bedroht: Alle Gärtner hatten Apfelbäume auf ihren Parzellen. Schau doch mal, was die anderen damit machen, riet mir eine innere Stimme.
Herr Kern erzählte, dass man zum Beispiel einen Kleinlaster mieten und die ganze Ernte zu einer Saftpresse nach Buchholz bringen könne. Dafür bekomme man Saft – für dreißig Cent die Flasche.
»Allerdings mischen sie dort deine Äpfel mit fremden«, fügte Herr Kern enttäuscht hinzu. »Sie kommen alle in ein und dieselbe Presse, sodass man nie sicher sein kann, ob man seinen eigenen Saft oder den des Nachbarn in der Flasche hat.«
Günther Grass meinte, die Russen wüssten doch wohl am besten, was sich aus vergammelten Äpfeln machen ließe. Dabei zwinkerte er mir unanständig zu.
Ende August lebte unsere Gartenkolonie wieder auf. Vor allem die Gärtner, die Kinder im schulpflichtigen Alter hatten, waren rechtzeitig zum Schulbeginn aus dem Urlaub zurückgekehrt und sammelten nun bereits am Vormittag heruntergefallene Äpfel auf. Sie krochen auf allen vieren durch ihre während des Urlaubs verwilderten Gärten, und anschließend mähten sie das nachgewachsene Gras. Herr Kern nahm sofort seinen Kampf mit dem Unkraut vor dem Gartentor wieder auf. Erstaunlicherweise war das Unkraut ausgerechnet dort am stärksten nachgewachsen, wo
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