Mein Leben im Schrebergarten
neuen Freunden. Wir drückten die Jungs, umarmten die Mädchen. Daniel musste zum zweiten Mal die Vitrine bezahlen, durch die er tags zuvor geflogen war.«
Mit solchen Worten beschrieb mein Nachbar seine sibirische Reise. Er ist der Autor des empfehlenswerten Buches »Auf ein Bierchen zum Ende der Welt« und hatte es letztes Jahr mit seinem Motorrad bis nach Wladiwostok geschafft.
Ein anderer Nachbar von mir, der als freischaffender Internetdesigner tätig ist, bucht jedes Jahr für teures Geld eine spirituelle Reise nach Tibet zum Berg Kailash. Dieser Berg, auch »Perle im Schnee«, »Leuchtender Kristall« und »Shivas Thron« genannt, ist das Ziel jedes buddhistischen Pilgers. Menschen aus der ganzen Welt laufen um den Berg herum und hoffen auf eine bessere Wiedergeburt. Je länger sie laufen, umso größer sind die Chancen, als etwas Anständiges und nicht schon wieder als Fischstäbchen wiedergeboren zu werden. Wer es schafft, den Berg hundertachtmal zu umrunden, wird von einer Wiedergeburt ganz verschont und landet direkt im Paradies. In einem buddhistischen Paradies versteht sich, das heißt keine Orgien, keine willigen Jungfrauen wie bei den Moslems, keine himmlische Musik wie bei den Christen, keine Garantie auf ewige Glückseligkeit, dafür zweimal am Tag kostenlose Meditationskurse und angenehme Gesprächspartner rund um die Uhr.
Bei uns in Prenzlauer Berg spielt das Jahn-Stadion die Rolle des Berges Kailash. Hier reißen die freischaffenden Internetdesigner tagtäglich ihre rituellen Joggingrunden, um bessere Menschen zu werden. Aus fetten Bürohengsten macht das Stadion schlanke Messiasse, und wer hundertacht Runden schafft, darf am Berliner Marathon teilnehmen – dem direkten Weg ins hiesige Paradies.
Ich bin auf der Suche nach Neuem einen anderen Weg gegangen. Meine Reise führte nicht weit: Ich habe den Schrebergarten zu meinem Kailash erklärt. Der kleine Garten ist wie der große Berg – ein Abbild der Ruhe und der Ewigkeit. Er saugt meine Zeit auf. Jedes Mal, wenn ich im Garten auf die Uhr schaue, ist es später, als ich denke. Der Gärtner ist in Wahrheit ein Laubenbuddhist, er glaubt, seine Parzelle sei auf ewig eingerichtet und seine Bäume würden tausend Jahre alt. Sein Lebensstil, seine bevorzugte Kleidung haben etwas Mönchhaftes an sich: die zerfetzten Sporthosen mit Beulen an den Knien und die farblosen T-Shirts ohne Ärmel. Dem Einfluss der Haute Couture stellt er sich entgegen. Sein Geist ist nicht getrübt von den Regeln und der Geschäftstüchtigkeit der mondänen Welt, seine Natürlichkeit lässt ihn närrisch und dumm aussehen. Sein erklärtes Ziel – den größten Kürbis der Welt zu ziehen oder eine zwei Meter große Sonnenblume zu besitzen – wird in den Augen der Öffentlichkeit immer lächerlich bleiben. Sein heimliches Ziel, die Sonnenanbetung, die er jedes Jahr unter freiem Himmel vollzieht, seine Rituale, darf ich nicht verraten. Fragen Sie ihn doch selbst. Er wird Ihnen bestimmt auch nichts sagen.
Fremde, die sich zufällig in eine Schrebergartenkolonie verlaufen oder jemanden suchen oder Dünger verkaufen wollen, werden vom Gärtner in der Regel mit der Gleichgültigkeit buddhistischer Mönche behandelt. Auf jede Frage antwortet der Gärtner mit einem geheimnisvollen Lächeln und einem Kopfnicken, damit der Fremde sehen kann: Der Gärtner hat seine Frage weder verstan - den, noch hat er eine Antwort darauf.
So sind meine Nachbarn – die Laubenbuddhisten. Die »Glücklichen Hütten« sind mein Nepal, Parzelle 118 mein Kailash. Ich habe sie längst hundertachtmal mit einer Harke umlaufen, denn ich will im nächsten Leben als Hummel wiedergeboren werden.
13 - Die Apfelernte
»Was war denn bei Ihnen los, Herr Kaminer?« Die Klassenlehrerin meines Sohnes hielt mich im Korridor auf, als ich Sebastian von der Schule abholte. Es stellte sich heraus, dass mein Sohn schon wieder die Öffentlichkeit mit seinen Ausführungen irritiert hatte. Am ersten Schultag sollte jeder in seiner Klasse erzählen, wie er den Sommer verbracht hatte. Es sei der schrecklichste Foltersommer seines Lebens gewesen, hatte Sebastian mit vibrierender Stimme berichtet: Russland sei total chaotisch. Jeden Tag hätte es bei Oma im Garten gebrannt, aber die Feuerwehr kam und kam nicht, er musste alles allein löschen, zwischendurch musste er auch noch ständig in der Eishöhle die hungrigen Eiszeitmenschen in Schach halten.
Das hatte mein Sohn erzählt und so getan, als würde er sich
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