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Mein Leben in 80 B

Mein Leben in 80 B

Titel: Mein Leben in 80 B Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Goerz
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Elissa grinste und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. «Sonst würdest du nicht diese scharfe Wäsche vertickern. Ersatzhandlung nennt man so etwas auch. Man sucht sich einen Ausgleich für die Dinge, die man sich nicht zugesteht. Manche Menschen essen Schokolade und werden fett, andere verdaddeln ihr Vermögen am Spielautomaten, und du wühlst in BH s und Schlüppern.»
    «Aaaahh ja. Vielen Dank für diese Analyse, Frau Freud. Ich hatte bisher angenommen, dass ich den Job bei Lucinda-Dessous angefangen habe, weil ich wieder unter Leute kommen und eigenes Geld verdienen wollte. Aber nein, in Wirklichkeit mache ich das nur, weil Toni es mir nicht richtig besorgt! Was für ein Glück, dass du mir die Augen geöffnet hast.»
    «Ilse, sei doch nicht sauer. Ich finde nur, es ist an der Zeit, dass du dir etwas in deinem Leben gönnst.»
    «Einen Lover!» Natürlich, das war typisch für Elissa, mir allen Ernstes einen solchen Vorschlag zu machen.
    «Ja. Meinetwegen. Oder einen Urlaub auf dem Traumschiff oder deinen Meister in Fotografie. Was immer du willst. Vergiss einmal deine Familie und versuch, dir vorzustellen, was du tun würdest, wenn wir beide hier in einer Wohngemeinschaft hausen würden. Versuche, nur mit dem Herzen herauszufinden, wie du über Oke und seine Annäherungsversuche denken würdest. Meine Güte! Tut mir leid, dass ich es so hart sagen muss, aber wann bist du bloß zu einer so engstirnigen und spießigen Tante geworden?»
    Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten. Zum Glück saß ich mit dem Rücken zu den anderen Gästen. «Ich bin doch nicht engstirnig! Und Spießer sind Leute wie deine Nachbarn damals in Flensburg, bei denen schon morgens der Fernseher lief, wenn wir in die Schule gingen. Da gab es keine Pläne oder Ideen oder Ausflüge.»
    «Und wenn du dich erinnerst, waren Spießer für uns auch die Menschen, die mit ihrer kleinen Bilderbuchfamilie in ihrem Häuschen auf dem Land wohnten, die immer in dieselben Orte in den Urlaub fuhren und bei denen es sonntags feines Essen gab und Vati für das große Geld sorgte.»
    Als der Kellner mit unserer Suppe kam, wischte ich mir mit der Serviette die Tränen aus den Augen und griff nach dem Löffel. «Dann bin ich eben eine Spießerin. Vielleicht ist das gar nicht so schlimm, wie wir früher dachten. Jedenfalls hat es mich bis gestern nicht gestört, in Falkensee zu wohnen, mich in erster Linie um meine Familie zu kümmern und meinem Mann treu zu sein.»
    «Treu sein, wenn einen kein anderer will, ist ja auch keine Kunst. Richtige Treue ist es doch erst, wenn es ein Angebot gibt. Und was heißt überhaupt ‹bis gestern›? Hat Oke also doch irgendetwas auf den Kopf gestellt?»
    «Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde. Aber er ist mir nicht egal.»
    «Ha!» Elissa kippte den Rest ihres Rotweins herunter und schenkte sich schon wieder nach.
    «Trotzdem – wie lange ich auch darüber nachdenke, es ändert nichts an meiner Situation. Ich bin Ilse Romagnolo, fast vierzig Jahre alt, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Das Außergewöhnlichste an mir ist mein kleiner Job mit den Dessous.»
    «Klingt wie bei irgendeiner miesen Reality-Show.» Elissa ahmte meinen Tonfall nach. «Hallo, ich bin die Ilse, und ich suche das Glück. Bisher leider erfolglos, aber beim Sender meines Vertrauens wird mir sicher geholfen. Mensch, wach auf. Du musst dich selbst um dein Leben kümmern, wenn sich etwas ändern soll.»
    Schon wieder fühlte ich mich unter Rechtfertigungszwang. «Aber ich habe nie etwas anderes gewollt. Ich war glücklich mit meinen Kindern und Toni.»
    «Hast du dir jedenfalls erfolgreich eingeredet! Ich kann mich noch an andere Pläne erinnern: Du wolltest Fotografin werden und warst auf einem guten Weg dahin. Jetzt knipst du nur noch deine Kinder, wenn ihr Geburtstag feiert.» Elissa zerrupfte das Brot aus dem Korb auf dem Tisch, als wäre es mein Leben. «Du wolltest dir die Welt ansehen und überall neue Motive für deine Ausstellungen finden. Jetzt fährst du höchstens in den Schnee oder nach Usedom. Niemand zwingt dich, jetzt und heute irgendetwas zu entscheiden. Niemand wird darüber urteilen, was du am Ende für dich wählst. Aber vielleicht nimmst du diese Geschichte als Denkanstoß.» Sie nahm den letzten großen Schluck aus ihrem Glas, bevor sie weitersprach. «Und jetzt mache ich dir einen Vorschlag: Wir bestellen gleich noch einen Wein und dann noch einen und reden in den nächsten Stunden nur noch über

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