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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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unmissverständlich. Aber er gibt uns Zeichen. Ich habe mich beispielsweise immer gefragt, warum die einzige Dur-Stelle in Siegfrieds Trauermarsch im letzten «Götterdämmerungs»-Akt dem Schwert-Motiv vorbehalten bleibt (rhythmisch leicht verbreitert, aber gut erkennbar)? Siegfried ist doch tot!
    Reckt er ein letztes Mal die Faust? Kommt er vielleicht doch wieder? Will Wagner noch einmal so richtig mit dem Finger in der Wunde rühren? Ist das Ganze bloß ein Stück konventionelle Heldenverklärung?
    Szenisch entspricht dem übrigens jener Moment, in dem Hagen dem toten Siegfried den Ring entreißen will. «Er greift nach Siegfrieds Hand: diese hebt sich drohend empor», so will es Wagner in seiner Regieanweisung und konstatiert «allgemeines Entsetzen». Im Zuschauerraum löst dieser Geisterbahneffekt regelmäßig Heiterkeit aus, was ganz falsch ist. Vielmehr müsste es ein Gruß aus dem Jenseits sein, ein Fanal der Würde. Siegfried ist gescheitert, er hat Schuld auf sich geladen, ja. Trotzdem sollten wir ihn nicht vergessen.
    Musik
    Was für ein Beginn! Erst das Kontra-Es, aus tiefsten Tiefen, dann Fagotte, Hörner, ein Ächzen, ein Raunen, «der Welt Anfang» im pastoralen 6 / 8 -Takt, spät erst treten die tiefen Streicher hinzu, wiegen sich in den Wellen des Rheins, noch später das hohe Holz, als trudelten Sauerstoffbläschen an die Wasseroberfläche. 136 Takte umfasst das «Rheingold»-Vorspiel, knapp fünf Minuten (nicht zu langsam nehmen!), 136 Takte reines Es-Dur in «ruhig heiterer Bewegung»: die Geburt des Kosmos aus dem Dreiklang. Und die Geburt auch jenes einmaligen Gefühlswegweisernetzes, das über vier Musikdramen hinweg einen Bogen spannt und Einheit stiftet, ordnet und gliedert, erahnt und erinnert, in Frage stellt und die Wahrheit sagt. Mit dem Natur-Motiv erhebt sich im «Rheingold»-Vorspiel das erste von insgesamt 80 (!) «Leitmotiven»: Motive, die von A wie Abenteuer bis Z wie Zorn alles ausdrücken, Blutsbrüderschaft, Feuerzauber und Waberlohe, Sühne, Machtdünkel, Geschwisterliebe oder Erlösung und noch vieles mehr (selbstredend hat auch jede einzelne Figur ihr Motiv). Der Begriff «Leitmotiv» geht übrigens auf Hans von Wolzogen zurück, den Herausgeber der «Bayreuther Blätter» und Vertreter des sektiererisch auftretenden «Wahnfried-Kreises». Wagner fand das Wort falsch, da es unterstellt, es gäbe einen roten Faden durch die Tetralogie, dem man anhand stereotyper Erkennungsmelodien nur folgen müsse. Eingebürgert hat sich der Begriff trotzdem, vielleicht weil «Gefühlswegweiser» dann doch zu nebulös und gefühlig klingt.
    Wagners Leitmotivtechnik ist penibel kalkuliert und arbeitet mit Verweisen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Gegenwart ist der darzustellende Augenblick, das, was die Figuren auf der Bühne miteinander verhandeln, die Vergangenheit ihre Herkunft oder Geschichte, und in der Zukunft liegen die Konsequenzen, die sich aus dieser oder jener Konstellation in dieser oder jener dramatischen Situation ergeben. Die Summe all dessen bildet das Gedächtnis der «Ring»-Partitur. Das Ganze hat etwas Rechenschieberisches, Demiurgenhaftes und mitunter Tautologisches, keine Frage. Die Motive im Einzelnen richtig zu entschlüsseln, ist allerdings gar nicht so einfach. Wagner pappt hier nicht musikalische Etiketten an- und aufeinander, sondern treibt mit der Aufmerksamkeit und der Kombinationsgabe seines Publikums ein raffiniertes Spiel. Ein Beispiel: Wenn die Götter im Finale des «Rheingolds» gen Walhall ziehen, erklingt zum ersten Mal das Schwert-Motiv, und zwar in dem Moment, in dem Wotan «wie von einem großen Gedanken ergriffen» seine Götterburg grüßt. Das Schwert-Motiv meint Nothung, die mythische Waffe, mit der Siegfried einst die Welt vom Fluch des Goldes befreien soll. Nothung aber kam im Plot bislang gar nicht vor, weder als Topos noch als Requisit. Seine Ankündigung übernimmt jetzt die Musik. Wotan hat also einen Plan, er sinnt auf Rettung, auch wenn es auf der Bühne nicht danach aussieht. Es ist das Orchester, das sich hier «über die Köpfe der handelnden Personen hinweg» (Dietmar Holland) mit dem Publikum verständigt. Und wer genau hinhört, hört auch, dass der Einzug der Götter in Walhall, ihre Prozession auf dem Regenbogen nicht ganz koscher ist. Von Loges zynischem Züngeln ebenso durchbrochen wie von den Klagen der Rheintöchter, offenbart sie hinter aller Pompösität eine erschütternde Leere.
    Die Frage ist natürlich, was

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