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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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der Zuschauer, der das Schwert-Motiv zum ersten Mal hört, damit überhaupt anfangen kann und soll. Begreift er seinen punktierten Rhythmus, die aufsteigende Quarte einfach als Affekt, als Signal der Hoffnung und des Aufbruchs? Oder merkt er sich das Motiv, bis es in der «Walküre» wiederkommt und sich ihm in seiner Bedeutung retrospektiv erschließt? Ein zweites Beispiel demonstriert den umgekehrten Fall: Am Ende der «Götterdämmerung» ertönt das Erlösungsmotiv, eine der einprägsamsten und verführerischsten Melodien des ganzen «Rings». Wagner verwendet dieses Motiv sparsam, nämlich genau zweimal: im dritten Akt der «Walküre», wenn Sieglinde sich über ihr noch ungeborenes Kind freut («O hehrstes Wunder, /Herrliche Maid!»), sowie in Brünnhildes Schlussgesang und den allerletzten Akkorden der Tetralogie. Doch wie soll der Hörer diesen Gruß aus der Vergangenheit interpretieren? Die Welt geht unter, der Kapitalismus frisst seine Kinder, und wir sollen uns an so etwas Archaisches wie die bedingungslose (Mutter-)Liebe klammern? Alles ist Mord, Verrat, Täuschung, Missbrauch, Gier, Depression und Fegefeuer – und die Botschaft am Ende sagt, solange geliebt wird, geht es schon irgendwie weiter?
    «Es gibt keinen Schluss für die Musik», soll Wagner selbst bemerkt haben. Warum? Weil die Verantwortung am Ende des «Bühnenfestspiels» beim Menschen selber liegt, kein Gott, kein Komponist kann ihm dabei helfen. Die Musik hat keinen Schluss, kann keinen haben, weil sie sich im Leben fortsetzt. Sie hat keinen Schluss, weil sie eine Utopie formuliert, ein Prinzip Hoffnung, das sich mit dem Erlösungsmotiv kuppelartig über alles wölbt: die Utopie, dass der Mensch ohne Liebe nicht leben kann – und dass er sich dessen allen Zweifeln und Verzweiflungen zum Trotz immer wieder bewusst wird.
    Mit dem «Ring», wie gesagt, fängt Wagner noch einmal ganz von vorne an. Und vielleicht fängt ja auch im «Ring» alles immer wieder von vorne an (im Sinne einer «Wiederholung ins Neue hin», wie Bloch sagt). Was vor der Tetralogie war, schiebt Wagner beiseite, als wären es bloß Stichproben gewesen, Zugeständnisse an die diversen Moden und Launen seiner Zeit, handwerkliche Gesellenstücke und Spürfahrten. Diese sind nun abgeschlossen, und alles, was er erlernt und erprobt hat, sickert als Sediment in seine neue musikalische Sprache ein. Die unendliche Melodie im Orchester, die permanente Verwandlung des Dramas aus sich selbst heraus, das Dickicht der Leitmotive – all das verleiht der Musik symphonische Größe. Gleichzeitig schreitet Wagner, unbescheiden wie er war, mit seiner Tetralogie mal eben den Horizont der europäischen Theatergeschichte ab: Das quecksilbrige «Rheingold» lässt an eine Shakespeare-Komödie denken; die «Walküre» mit ihren Beziehungsdramen ist nichts anderes als ein bürgerliches Trauerspiel; das Waldweben des «Siegfried» zitiert die deutsche romantische Oper; und die «Götterdämmerung» nimmt an der griechischen Tragödie Maß. Der «Ring» heimst alles ein und gibt so schnell nichts wieder her.
    Wagner aber will noch mehr. Zwei Jahre nach der Uraufführung des «Rings», 1878, stößt er jenen vielsagenden Seufzer aus, dass er als Schöpfer des unsichtbaren Orchesters am liebsten auch das «unsichtbare Theater» erfinden würde. Ich denke, das ist mehr als ein Bonmot, mehr als sein üblicher Widerwille gegen jedwedes «Kostüm- und Schminkewesen». Er hat gesehen, dass seine Ideen zur szenischen Realisierung des Musikdramas nicht funktionierten, die zeitgenössischen Bühnenmittel standen ihm im Weg, und auch die Gleichberechtigung von Musik, Text, Raum, Geste und Licht wollte nicht glücken. Die Szene stellte für Wagner ein gewaltiges Risiko dar, und wenn wir ehrlich sind, hat sich daran bis heute wenig geändert. Natürlich gab es seit 1876 einige bedeutende «Ring»-Inszenierungen (etwa von Patrice Chéreau, Götz Friedrich, Ruth Berghaus). Grundsätzlich aber gilt für die Szene noch stärker als für die Musik: Wagner zeigt uns ganz genau, was er will – und wir wissen, dass wir es mit unseren Kräften nicht schaffen. Aber wir wissen auch, dass wir es wieder und wieder versuchen werden, ja versuchen müssen. Für mich ist das ein enormer Motor und Trost.
    Aufnahmen
    Derzeit sind etwa 30 Gesamteinspielungen des «Rings» auf dem Markt: von Exotischem wie dem «HMV potted Ring Cycle» (einer historischen Kompilation aus den Jahren 1927–1932, unter anderen mit

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