Mein Leben mit Wagner (German Edition)
in London.
Während W ILLIBALD K AEHLER (1866–1938) mit seiner schicken Zwanzigerjahre-Brille nur zwei Auftritte in Bayreuth vergönnt sind, avanciert der bullige K ARL E LMENDORFF (1891–1962) zur regulären Stütze des Wagner-Hauses: Von 1927 bis 1942 dirigiert er fast jedes Jahr in Bayreuth. F RANZ VON H OESSLIN dagegen, Jahrgang 1885, Chefdirigent in Breslau, gerät wegen seiner jüdischen Frau, der Sängerin Erna Liebenthal, ab Mitte der Dreißigerjahre zunehmend in Schwierigkeiten. Winifred Wagner, die inzwischen die Festspiele leitet, hilft, indem sie ihn 1934 und noch einmal von 1938 bis 1940 nach Bayreuth einlädt. Im benachbarten Ausland, vor allem in Frankreich, gilt von Hoesslin als einer der «größten lebenden Meister des Taktstocks neben Toscanini». 1946 verpasst er sein Flugzeug nach Genf (wo er am selben Abend «Così fan tutte» dirigieren sollte, ein frühes Beispiel für den Jetset) und chartert eine Privatmaschine. Der Flieger stürzt über dem Golf von Lyon ab, Franz von Hoesslin und seine Frau kommen dabei ums Leben.
Damit stehe ich vor A RTURO T OSCANINI , dem legendären Leiter des NBC Symphony Orchestra in New York, dem Schwiegervater von Vladimir Horowitz, dem gefürchteten Pult-Despoten, Apolliniker und ersten «Ausländer» unter den Hügel-Dirigenten. Toscanini gibt seinen Einstand 1930 mit «Tristan» und «Tannhäuser» – und feiert Triumphe: über den offenbar eingerissenen Bayreuther Schlendrian, seinen Widersacher Muck, die klammen wirtschaftlichen Verhältnisse, das Orchester. Dieselben Musiker, über deren Köpfen er während der Proben mehrere Taktstöcke zerbrochen hatte, würden ihn nun am liebsten auf Händen aus dem Festspielhaus hinaus und um dieses herum tragen. 1931 macht «Tosca» seinem Ruf als langsamster Wagner-Dirigent der Welt alle Ehre: Vier Stunden und 42 Minuten braucht er für den «Parsifal», 23 Minuten länger als Muck, gar 38 Minuten länger als Levi bei der Uraufführung. Bis heute der absolute Rekord. Und ein Paradox: Ausgerechnet Toscanini, der Präzisionsfanatiker, der Hüter der musikalischen Sachlichkeit, treibt in seinen Tempi den von Cosima initiierten, streng museal ausgerichteten «Bayreuther Stil» auf die Spitze. Will er ihn ad absurdum führen? Oder ist die Sprache das Problem? Siegfried Wagner, der glänzend Italienisch konnte, war tot, Toscaninis Assistent überhaupt «unfähig», wie Winifred berichtet – und wer sonst hätte dem Maestro, der die Werke auswendig beherrschte, beim Übersetzen von Probenberichten, schriftlichen Äußerungen Wagners oder Vortragsanweisungen in der Partitur behilflich sein können? Furtwängler als frisch gekürter musikalischer Leiter der Festspiele beklagt, Toscanini fehlten «tiefere Einsicht, lebendigere Fantasie, größere Wärme und Hingabe an das Werk». Eifersüchteleien und Reibereien sind die Folge, der Sommer endet im Streit an allen Fronten. Für die nächsten Festspiele 1933 kann Winifred Toscanini trotzdem gewinnen, man verabredet fünf «Parsifal»- und acht «Meistersinger»-Vorstellungen. Am 1. April aber unterschreibt der Italiener in New York ein Protesttelegramm an die deutsche Regierung: Der offizielle «Judenboykott» bedrohe viele Künstlerkollegen. Am 28. Mai folgt seine Absage für Bayreuth, ebenfalls per Telegramm und «mit den Gefühlen unveränderlicher Freundschaft für das Haus Wagner» unterzeichnet. Toscanini lässt sich stattdessen für die Salzburger Festspiele verpflichten und emigriert 1937 in die USA. Dort stirbt er 1957, im Alter von fast 90 Jahren.
Die Verbrechergalerie im Bayreuther Festspielhaus
Gleich neben ihm der erklärte «Gegenpapst»: W ILHELM F URTWÄNGLER . Geboren 1886, war er Chefdirigent der Berliner Philharmoniker in der Nachfolge von Arthur Nikisch ab 1922, außerdem seit 1933 Direktor der Berliner Staatsoper – einer der bedeutendsten und einflussreichsten Wagner-Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Toscanini nennt den geborenen Charismatiker kurzerhand einen «Hanswurst», sicher ein Seitenhieb auf Furtwänglers, nun ja, etwas unorthodoxe Zeichengebung. 1930, nachdem Karl Muck schmollend das Weite gesucht hatte, wird Furtwängler von Heinz Tietjen (auf den ich gleich zu sprechen komme) und Winifred Wagner heftig umworben. Das nutzt er weidlich aus, schließlich kann er es sich leisten. Er fordert die musikalische Leitung der Bayreuther Festspiele, erhält sie und debütiert ein Jahr später mit «Tristan und Isolde». 1936/37 folgen der
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