Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Wahrheit. Man muss nur einmal kräftig mit dem Fuß aufstampfen: alles hohl. Da gibt es keinen festen Grund, bloß Sand, Spinnweben, loses Gestein, totes Getier. Und jede Menge Wasser (erst 2010 hat man um das Haus eine neue Drainage gelegt, um zu verhindern, dass bei Gewitter oder Platzregen in kürzester Zeit die Foyers volllaufen). Ein Blick in diese Katakomben verrät: Das Haus steht auf Stelzen, fast wie in Venedig, und bis auf die gemauerten Fundamente ist alles aus Holz. Für die Akustik ist das hervorragend, denn Holz schwingt. Und 1872 war es natürlich billiges Baumaterial, leicht zu beschaffen, leicht zu verarbeiten. In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurden dann Teile der Konstruktion durch Beton oder Stahl ersetzt, allerdings nur oberirdisch. Das bedeutet: Bis heute kann im Festspielhaus keine Klimaanlage eingebaut werden. Wenn es draußen heiß ist und drinnen kalt, wenn man den Räumen zu viel Feuchtigkeit entzieht, dann droht das Holz zu platzen, und alles verzieht sich. Also muss dem Zuschauerraum die 1990 installierte moderate «Zu- und Abluftanlage» genügen, und wir im Graben büßen während einer «Götterdämmerung» bei gefühlten 48 Grad alle unsere Sünden ab. Der Kollege Karl Böhm soll an solchen Tagen immer zwei Schüsseln mit kaltem Wasser geordert haben, für jeden Fuß eine. Und ich habe mir mit Wolfgang Wagners Erlaubnis zwei Luftschläuche ans Pult legen lassen. Das sieht zwar nicht besonders attraktiv aus, sorgt aber für Zirkulation. Mit seinen Lämpchen und Leuchten, seinen Kabeln und Strippen wirkt das Dirigentenpult ohnehin recht vorsintflutlich, wie ein Cockpit unter Tage – und gar nicht wie eine Kanzel oder ein Katheder. Immerhin wird das Sitzpolster des Dirigentenstuhls jeden Sommer frisch bezogen, das beruhigt mich.
Der berühmte Graben ist ein Unding und ein Unikum zugleich. Ein Schacht, steil ins Hügelinnere getrieben, ein Stollen mit doppelter hölzerner Klangblende: Die erste ist über den Blechbläsern montiert, die zweite, für das Publikum sichtbar, über den Streichern. Richard Wagner wollte keine Pulte sehen, keine Instrumente, keine Musikergesichter und erst Recht keine gestikulierende Dirigentensilhouette. Er wollte das «unsichtbare Orchester» – und hat es in Bayreuth erfunden. Musik als mystisches Ereignis, als Naturgewalt: Nichts soll vom reinen Hören ablenken. Ein Klang wie die Luft zum Atmen, einfach da. Und Wagner wusste offenbar genau, wie dieses Ideal akustisch zu erreichen war. Der Bayreuther Graben ist terrassenförmig angelegt, sechs Stufen führen vom Dirigentenpult nach unten, zuoberst sitzen die Geigen, gefolgt von den tieferen und tiefen Streichern, dann Holzbläser und Harfen, dann das leichte Blech und schließlich Tuben und Posaunen. Rechnerisch macht das 1,129 Quadratmeter pro Person samt Instrument (bei 124 Menschen auf 140 Quadratmetern), nicht eben viel Platz. Da müssen die Celli ihre Bögen und die Posaunen ihre Züge schon fein hüten, und dass bei den Tutti-Geigern die etwas beleibteren oder mit mehr Haupthaar gesegneten Kollegen eher an den hinteren Pulten arbeiten, versteht sich ohnehin von selbst.
Die Akustik
Akustisch ist dieser Graben eine Wunderkammer. Der Schall nimmt eine S-Kurve: vom Blech über Holz und Streicher aufsteigend zur Bühne und erst dann nach draußen sich ergießend, in den Saal. Die Idee stammt von Wagner selbst, wie gesagt, und war hoch spekulativ. Woher hätte er wissen können, dass sein Traum vom perfekten Mischklang aufgehen würde? Neben dem Teatro Colón in Buenos Aires bietet Bayreuth heute die beste Opernakustik der Welt. Wagner hat viel dafür riskiert, selbst als fast alles fertig war, ließ er den Graben noch einmal vergrößern, indem er die ersten beiden Reihen des Zuschauerraums opferte. Und als er baulich nicht weiter kam, fing er an, einzelne Stellen in seinen Partituren umzuinstrumentieren, auch im «Ring». Das lässt tief blicken: Nicht die Noten sind für Wagner das Maß der Dinge, sondern das «Gesamtkunstwerk». Alles mit allem, jeder mit jedem. So wie in der Bayreuther Kantine die Rezeptionistin neben dem Heldentenor sitzt und beide einträchtig ihre Bratwürste essen. Der eine ist vielleicht mehr das Herz der Festspiele, die andere mehr das Hirn, der dritte die Augen, der vierte Leber, Lunge, Milz oder Magen. Und das Herz ist keineswegs wichtiger als alles andere, die Augen dürfen nicht laut schreien, ohne uns seid ihr blind! Nein. Es ist ein Organismus. Nur
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