Mein Leben mit Wagner (German Edition)
zusammen ergibt sich ein Ganzes, ein vitaler Körper. Das war Wagners Vision.
Natürlich hat der Graben Tücken. Für Debütanten sowieso, aber auch für ausgefuchste Kapellmeister. Zwei Beispiele: Wenn ich oben am Pult denke, Chor und Orchester sind wunderbar zusammen, dann sind sie draußen im Saal garantiert wunderbar auseinander, dann ist der Chor nämlich zu früh. Nur einen kleinen Tick, aber zu früh. Oder wenn die Sängerin der Brünnhilde in der «Götterdämmerung» zum Schlussgesang ansetzt, dann bin ich darauf angewiesen, ihr den Text – «Starke Scheite /schichtet mir dort» – von den Lippen abzulesen, denn wirklich hören kann ich sie nicht, dafür ist das Orchester zu laut. Das bedeutet: Der Souverän sitzt in Bayreuth einzig und allein im Publikum, nur dort mischt sich auf ideale Weise, was vorne angerichtet wird. In gewisser Weise werden wir Macher, wir Interpreten in unserem Tun also entmündigt. Das Orchester vernimmt von den Sängern allenfalls ein Piepsen oder fernes Rufen – ganz abgesehen davon, dass die Musiker sich untereinander extrem schwer hören; die Sänger haben das Gefühl, gegen die Breitseiten aus dem Graben niemals ankommen zu können; und der Dirigent sieht zwar fast alle und alles, kann sich aber auf nichts so wenig verlassen wie auf seine Ohren. Deshalb steht während der Proben neben dem Dirigentenpult auch ein Telefon, so ein grauer, altmodischer Knochen mit einem roten Lämpchen dran. Das leuchtet, sobald die Assistenten, die oben im Zuschauerraum aufpassen, etwas anzumerken haben: zu laut, zu leise, zu langsam, zu schnell. Bei den Vorstellungen gibt es dieses Telefon (leider) nicht, manchmal wünschte man es sich. In Bayreuth darf der Dirigent nicht zuhören, hat Daniel Barenboim einmal richtig gesagt.
Mit Telefon bei der Probe im Bayreuther Orchestergraben (2004)
Was ist das? Ein menschenverachtendes, schizophrenes System? Die Allmachtsphantasie eines einzelnen Komponisten, der wir uns bis heute beugen, weil wir seine Musik so toll finden? Ich möchte es positiv formulieren. Bayreuth sagt: Alle müssen an einem Strang ziehen. Niemand kann sich nur auf sich selbst stellen. Jeder ist wichtig, wie gesagt, auch und gerade im Orchester. Der Hornist mit seinem Solo, der Konzertmeister, der für die Homogenität in seiner Gruppe sorgt, die Harfenistin, die auf der «Beckmesser-Harfe» so herrlich schräge Töne spielt, die Chordirigenten, die im «Lohengrin» oder im «Tannhäuser» auf den Türmen links und rechts vom Proszenium stehen und für das Bühnenvolk den Takt schlagen (weiter hinten auf der Bühne hat man keine Chance, den Dirigenten zu sehen, und je nach Bühnenbild gibt es dort auch keine Monitore). Und der Dirigent selbst ist natürlich auch nicht unwichtig – so er sich auf diese exzentrische Versuchsanordnung einlässt.
Der Bayreuth-Dirigent muss viele Dinge tun, die ihm professionell gegen den Strich gehen. Er muss sich von seinen Assistenten sagen lassen, wo das Tempo schleppt oder wo er zu laut ist, und vom Chordirektor, dass der Einsatz immer noch zu früh kommt. Er kann dem Geschehen auf der Bühne nicht einfach folgen und sich dabei auf die Intuition seiner Musiker verlassen (wie das bei sehr guten Orchestern in offenen Gräben der Fall ist), sondern wird permanent gezwungen zu antizipieren. Vor allem aber sollte er sich schleunigst von der Idee verabschieden, nur große Kunst machen zu wollen. Das nimmt einem das Haus leicht übel. Deshalb haben auf dem Grünen Hügel immer eher die guten Kapellmeister reüssiert, die handwerklich Sattelfesten und Soliden, nicht die Glücksritter, nicht die Überflieger. Wobei ein gutes Handwerk und schöne Ideen sich nicht unbedingt ausschließen.
Mit der Zeit bekommt man als Dirigent ein Gefühl für die größeren und kleineren Imponderabilien, dann weiß man, dass ein Forte im «Holländer» mit einem Forte im «Siegfried» wenig zu tun hat. Man kann dieses Haus mit seiner Akustik lernen wie eine Partitur: indem man sich raten lässt. Und, ganz wichtig, indem man die Proben der Kollegen besucht. Man fährt in Bayreuth nicht weg, wenn man ein paar Tage frei hat, sondern bleibt da und hört und vergleicht und hört noch einmal und analysiert für sich selbst. Wo gibt es das schon im Musik-Business, wo macht man das sonst? Der Grüne Hügel setzt auf die persönliche Anschauung jedes Einzelnen – und die mündliche Überlieferung. Das gehört mit zur familiären Atmosphäre und Tradition. Wer sich dem
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