Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Bayreuth nahelegte und riet. Aber dann stand Wolfgang Wagner vor mir, mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit und Erfahrung, und ich musste daran denken, dass er hier alle Großen gehört hatte, von Furtwängler über Toscanini und Knappertsbusch bis Böhm und Carlos Kleiber. Wenn so jemand sagt, er finde diesen Übergang etwas spannungslos und jenes Tempo zu breit, dann akzeptiert man das. Man nimmt es sich zu Herzen oder versucht es zumindest.
In Bayreuth (2002)
Trotzdem gab es einige Stellen, die mir absolut contre coeur gingen. Ich tat da etwas, wovon ich nicht überzeugt war – und spürte doch, es musste so sein. Eine innere Stimme sagte mir, tu’s, beiß die Zähne zusammen. Im Nachhinein denke ich: Erst im Konflikt mit meinem musikalischen Gefühlshaushalt habe ich gelernt zu disponieren. Ich musste plötzlich planen, vorausdenken, mir einiges richtig bewusst machen, ich konnte mich nicht bloß dem Augenblick überlassen. In Bayreuth bin ich, wenn man so will, erwachsen geworden.
Der Graben spricht seine eigene Sprache. Dadurch, dass die Musik hier (wie auf der Bühne auch) so anders klingt als im Saal, benötige ich als Dirigent eine Art Übersetzungshilfe. Das ist wie Vokabeln lernen: An welchen Schrauben muss ich drehen, damit ich «draußen» diese oder jene Wirkung tatsächlich auch erziele? Und das Gemeine ist: Die Übersetzung für die «Meistersinger» hat mit der «Parsifal»-Übersetzung nur bedingt etwas zu tun.
Ich saß viel in den Proben der Kollegen, bei Giuseppe Sinopoli, Antonio Pappano und Adam Fischer, bei Pierre Boulez und Peter Schneider. Meist sind es gar nicht die guten Proben, von denen man als Bayreuth-Eleve profitiert, sondern die, in denen etwas nicht funktioniert. Dann sagt mir der Assistent, das klingt so dick, weil die Geigen diese Läufe staccato spielen müssten und es nicht deutlich genug tun, oder das Forte kommt gepresst, weil zwar forte geschrieben steht, der Dirigent aber zu spät dämpft. In Bayreuth ein schönes Forte oder Fortissimo zu erzielen, ist gar nicht leicht. Das Äußerste geben minus fünf Prozent – vielleicht ist das die richtige Formel. Und so gesellt sich langsam ein aufführungspraktisches Mosaiksteinchen zum nächsten.
Eine der irritierendsten und aufregendsten Entdeckungen war für mich, dass man Richard Wagner in Bayreuth auch gegen sich selbst in Schutz nehmen muss. Oft steht fortissimo in der Partitur und man darf höchstens piano anzeigen, damit das Orchester nicht alles andere zudeckt. Ich denke, solche Spielanweisungen hätte Wagner, wenn es ihm noch vergönnt gewesen wäre, in großer Zahl geändert. Auch um es dem Dirigenten leichter zu machen: Soll der nun größtmögliche kapellmeisterliche Texttreue walten lassen oder die Noten von ihrer Wirkung her interpretieren und gegebenenfalls vom geschriebenen Text abweichen?
Die «Meistersinger» gelten auf dem Grünen Hügel als das heikelste Stück (gefolgt vom «Rheingold» und den früheren Opern). Man merkt sehr deutlich, dass sie nicht für das Festspielhaus komponiert worden sind, und wenn es kein solcher Frevel wäre, müsste man den Grabendeckel in der Tat abmontieren. Denn hier geht es nicht um alchemistische Farbmischereien wie im «Parsifal», sondern um die Mechanik des Komischen, und die muss so direkt und präzise sein wie möglich. Mit den «Meistersingern» in Bayreuth zu debütieren, ist der Sprung ins kälteste aller kalten Wagner-Gewässer. Erstaunlicherweise habe ich das 2000 gut verkraftet. Ich kann mich noch genau erinnern: Als bei der Premiere am 1. August der erste Ton des Vorspiels erklang, wusste ich, es würde klappen. Das habe ich nur ganz selten in meinem Leben erlebt. Mich reizten damals die Widersprüche: Einer Partitur, die nicht für Bayreuth gedacht ist, trotz der Bayreuther Verhältnisse und mit diesen zu ihrem Recht zu verhelfen – gab es eine bessere Methode, die Eigenheiten des Festspielhauses zu erforschen? Außerdem konnte ich mich immer damit beruhigen, dass kein anderes Werk, von Einzeltücken abgesehen, je wieder so schwer werden würde.
Noch etwas anderes gibt es, das einem die Arbeit in Bayreuth leicht und schwer zugleich macht: das Orchester. Dieses Orchester – rund 200 Musiker vorrangig aus deutschen Opern-, Rundfunk- und Symphonieorchestern, die für die Festspiele auf ihre Sommer- und Theaterferien verzichten – ist eines der heißblütigsten und eruptivsten, das ich kenne. Niemand schiebt hier Dienst, alle wollen, und sie
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