Mein Leben mit Wagner (German Edition)
wollen vor allem wiederkommen. Das heißt, der Bayreuther Musiker hat überdurchschnittlich viel Lust, genau das, was man sich andernorts oft sehnlich wünscht. Normalerweise ist man als Dirigent immer wieder damit beschäftigt, zu animieren und zu motivieren, spielt doch bitte mit etwas mehr Herz! In Bayreuth ist das Gegenteil der Fall, und das ist nicht unproblematisch. Hier muss man permanent zur Beherrschung mahnen – bitte nicht so viel Gefühl, nicht so viel Temperament, nicht diesen Wildwuchs! Wenn es einem allerdings gelingt zu bremsen, ohne den Musikern die Freude auszutreiben, dann kann das für beide Seiten sehr erfüllend sein.
In meinem ersten Bayreuther «Ring»-Jahr 2006 haben die Musiker mir ein T-Shirt geschenkt, auf dem in großen Lettern «Nur Forte!» drauf stand. Das war die Anweisung, die ich wohl am häufigsten gegeben hatte. Dazu muss man wissen, dass in Bayreuth vieles lauter gespielt wird als in offenen Gräben. Auftakte zum Beispiel müssen per se lauter und prägnanter genommen werden, sonst verpuffen sie, sonst werden sie draußen gar nicht wahrgenommen. Das wiederum kann dazu verleiten, grundsätzlich alles lauter zu spielen. Weil ich als Musiker plötzlich Instrumente höre, die ich zuhause nie höre. Ohnehin ist der Geräuschpegel beträchtlich, über 100 Dezibel bei den Blechbläsern (die menschliche Schmerzgrenze liegt bei 110 Dezibel). Hier droht eine gefürchtete Kettenreaktion. Um die zu verhindern, muss der Dirigent strikt darauf achten, dass die vorgeschriebene Dynamik im leisen Bereich eingehalten wird. «Nur Forte!» meinte also in erster Linie: bloß kein Dauer-Fortissimo!
Ausgesprochen lehrreich war es für mich immer wieder, mir Übertragungen von Festspielaufführungen im Radio anzuhören. Oft genug war es so, dass ich dachte: Was habe ich bei diesem oder jenem Tempo im Graben doch getrieben – und im Radio floss es ganz wunderbar, gemessen und genau richtig. Solche Beobachtungen sind extrem verunsichernd, denn normalerweise merke ich, ob die Spannung hält oder nicht. Und in Bayreuth? So viel hysterischen Aufwand für einen so homöopathischen Output?
Manchmal kommt mir der «mystische Abgrund» wie eine sehr dicke Herdplatte vor: Unten muss ich irre einheizen, damit es oben halbwegs warm wird. Und noch schwieriger ist es, die Hitze wieder zu reduzieren.
Die Wagners
Die Wagners aßen gerne Wurstsalat. Bei den Pausenempfängen, bei ihren berühmten Hauseinladungen, immer gab es Wurstsalat. Ich mag keinen Wurstsalat. Aber das war im Grunde das einzige, was zwischen uns stand.
Wenn ich an Wolfgang Wagner denke, sehe ich ihn nicht so sehr auf seinem Klappstuhl auf der linken Seitenbühne sitzen, wo er während der Vorstellungen noch hoch betagt ganze Akte zuzubringen pflegte; ich sehe ihn nicht auf dem Sterbebett, das schon gar nicht, obwohl ich einer der letzten war, die ihn noch besucht haben; und ich sehe ihn auch nicht, wie er am Stock den Zebrastreifen zwischen seiner Villa und dem Festspielhaus überquert – meist war es für ihn das zweite Mal am Tag, oft war er schon früh im Büro, ging dann fürs Frühstück noch einmal zurück und kam zu Probenbeginn wieder. Nein, ich sehe Wolfgang Wagner, wie er sich nach einer «Meistersinger»-Vorstellung vor mir aufbaut, im Smoking, und redet. Der «Alte», wie wir ihn nannten, lobte ja nicht. Der sagt nichts Nettes, hieß es immer. Und das stimmte. Wenn es hoch kommt, kann ich mich an sieben oder acht Situationen in all den Jahren erinnern, in denen er so etwas knurrte wie «locker musiziert» oder «schön durchsichtig». Aber mehr auch nicht. Gudrun Wagner hingegen stand immer ins Gesicht geschrieben, ob ihr etwas gefallen hatte oder nicht. Und sie hielt auch mit Worten, mit Kritik nicht hinterm Berg.
Normalerweise erkannte ich Wolfgang Wagner an seinem Schritt. Auf dem obersten Treppenabsatz blieb er meist kurz stehen, bevor er weiter den Gang zu den Dirigentengarderoben entlang tappte. Nach der besagten «Meistersinger»-Vorstellung aber konnte ich ihn nicht hören, weil ich unter der Dusche stand. Ich trete also aus der Dusche heraus (die Garderoben heißen nicht umsonst Hasenställe), mit einem kleinen Handtuch in der Hand – und in dem Moment steht er vor mir und fängt an zu reden. Über den Chor und die Sänger und diese oder jene Stelle. Mir war das fürchterlich unangenehm, und ich versuchte, mich bemerkbar zu machen: «Wissen Sie, Herr Wagner, irgendwie fühle ich mich komisch.» Woraufhin er
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