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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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sagte: «Hab’ schon mal ’nen nackten Mann gesehen in meinem Leben» – und weitersprach. Es hatte gar keinen Sinn, sich ihm zu widersetzen. Nachdem er losgeworden war, was er loswerden wollte, drehte er sich um, schön’n Abend noch, und verschwand. Und ich war trocken.
    Diese Szene ist für Wolfgang Wagner so typisch, weil er vor nichts zurückschreckte, wenn es um die Sache ging. Er konnte extrem jähzornig sein und aufbrausend, dann wurde er auch richtig laut. Nicht lange und niemals mir gegenüber, aber die Wände im Festspielhaus sind dünn. Über Privates haben wir nie gesprochen, trotz seiner jovialen Art war er nicht der Mensch, der sich anderen gegenüber öffnete. Ich empfand das als wohltuend professionell, ganz alte Schule. Trotzdem hatte ich zu ihm ein Verhältnis wie zu einer Vaterfigur, er erschien mir gütig, streng und liebevoll zugleich. Ich habe nicht viele Menschen kennengelernt, die so wenig Aufhebens um ihre eigene Person machten wie er. Wolfgang Wagner war sozusagen immer im Dienst. Er verkörperte die Festspiele, er war der Patriarch, der Fürst, der unangefochtene und unanfechtbare Herrscher über den Grünen Hügel und dessen künstlerische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Geschicke. Und wie es sich für einen guten Herrscher gehört, wusste er über seine «Vasallen» genau Bescheid. Hier benötigte die Frau eines Angestellten eine kostspielige ärztliche Behandlung, da ging es um die Ausbildung der Kinder, dort um Spenden für die Finanzierung eines exotischen Wagner-Vereins – die Wagners halfen viel und sprachen nicht darüber.
    Wolfgang, Jahrgang 1919, war das dritte Kind von Siegfried Wagner und dessen Frau Winifred, der zweitgeborene Sohn. Auf Fotografien guckt einem ein blondes, blasses Bürschchen entgegen, ein mäßiger Schüler, wie es hieß, und schlechter Esser. Die «Wagner-Nase» (jenen Zinken, der für die Dynastie so typisch ist, seit Richard Wagner mit Cosima eine Tochter Franz Liszts geheiratet hatte) erkennt man bei ihm lange nicht. Und erst recht nicht, dass er es sein würde, der den Festspielen bis ins 21. Jahrhundert hinein seinen Stempel aufdrückte. Im Garten der Villa Wahnfried spielten die Geschwister die «Walküre» und den «Lohengrin» nach, mit kleinen geflügelten Helmen, Pappschwertern und Bärenfellen. Lange stand Wolfgang im Schatten seines zwei Jahre älteren Bruders Wieland: Er galt als weniger begabt, wollte eigentlich Dirigent werden, doch als der Krieg ein Studium verhinderte, heuerte er als Regieassistent an der Berliner Staatsoper an. 1950 übernahm er gemeinsam mit Wieland die Leitung der Bayreuther Festspiele, kümmerte sich um das Wirtschaftliche und das Organisatorische, begann zu inszenieren.

    Mit Wolfgang Wagner 2002 auf der Bühne des Bayreuther Festspielhauses nach einer Vorstellung der «Meistersinger von Nürnberg» (Inszenierung: Wolfgang Wagner)
    Als Wieland 1966 überraschend starb, mit 49 Jahren, setzte der «kleine Bruder» eigene Maßstäbe. Er überführte die Festspiele samt dem verbliebenen Familienarchiv und der Villa Wahnfried in eine Stiftung, verpflichtete aufregende Künstler (Dirigenten wie Pierre Boulez und Carlos Kleiber, Regisseure wie August Everding, Götz Friedrich und Patrice Chéreau), setzte seine Regiearbeiten fort, heiratete ein zweites Mal, bezog oben auf dem Hügel ein eigenes Haus – und sicherte sich als Festspielleiter einen Lebenszeitvertrag. Fast 60 Jahre lang hütete und verteidigte Wolfgang Wagner die Bayreuther Festspiele und führte ein strenges Regiment, nach allem, was man bis heute hört. Berüchtigt waren nicht nur seine «Hausmitteilungen», die, mit Tesafilm befestigt, an Türen und Fahrstühlen klebten, allen «Nicht-Zugangsberechtigten» den Aufenthalt untersagten und jegliche «Bild- und Tonaufnahmen» verboten. Stets waren diese Mitteilungen mit den Worten unterzeichnet, mit denen Evchen im zweiten Akt der «Meistersinger» den Schuster Sachs umgarnt: «Hier gilt’s der Kunst». Das stand auch auf den Flugblättern, die die Brüder zur Eröffnung von Neu-Bayreuth 1951 verteilen ließen: «Im Interesse einer reibungslosen Durchführung der Festspiele bitten wir von Gesprächen und Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel freundlichst absehen zu wollen. Hier gilt’s der Kunst.» Nie wieder Missbrauch, nie wieder Propaganda.
    1999, als wir uns in Chicago trafen, war Wolfgang Wagner 80 Jahre: ein alter Mann mit einer unfassbaren Vitalität. Mir kam er damals

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