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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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höchstens wie 50 vor. Trotzdem war er natürlich ein wandelndes Geschichtsbuch, ihn konnte man alles fragen – und er wusste auch alles, dank seines phänomenalen Gedächtnisses. Wie der Knappertsbusch vor dem Festspielhaus auf der grünen Wiese saß und Autogrammkarten verteilte; die Auseinandersetzungen mit Karajan natürlich, und zwar en detail , und warum Solti scheiterte; wie die Leute 1976 zum Chéreau-«Ring» mit Trillerpfeifen anrückten und es im Zuschauerraum zu Handgreiflichkeiten kam; wie die Familie sich nur unter Polizeischutz in der Öffentlichkeit bewegen konnte und Gudrun Wagner von einem wütenden Besucher das Abendkleid zerrissen wurde. Und etliches mehr.
    Manchmal trafen wir uns zu dritt oder zu viert, mit Katharina, nach der Vorstellung im alten Sitzungszimmer im Erdgeschoss (wo sich heute die Büros der Festspielleiterinnen befinden). Der lange Tisch war nett gedeckt, es gab in einer riesigen Schüssel den unvermeidlichen Wurstsalat, aber auch Brezeln und Käse, die Evi, Katharinas Kindermädchen, brachte ein paar Flaschen Bier, und dann wurden die Schuhe ausgezogen, die Hemden gelockert, und es war richtig gemütlich, oft bis tief in die Nacht. Von den Pausenempfängen hingegen hielt ich mich eher fern. Wie schaffen manche Kollegen das, frage ich mich, nach einer Stunde Smalltalk einen zweiten Akt «Walküre» zu dirigieren oder einen dritten Akt «Tristan»? Nur als Joseph Ratzinger 2003 eine «Tannhäuser»-Vorstellung besuchte, noch als Kardinal, ging ich hin, ihn wollte ich unbedingt kennenlernen. Und dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder habe ich meine Aufwartung gemacht, um ihm die Situation der Berliner Opernhäuser zu erläutern.
    Man hat mich oft gefragt, ob Wolfgang Wagner ein Künstler war. Ich weiß nicht, welche Antwort man von mir erwartete. Nein, er tut nur so, aus dynastischen Gründen? Nein, aber seine Inszenierungen sind die «Kröten», die wir schlucken müssen, um selber weiter auf dem Grünen Hügel arbeiten zu dürfen? Ich denke, der «Alte» war viel mehr Künstler, als er es zeigen konnte oder wollte. Dafür verstand er sich zu sehr als Respektsperson, als Familienoberhaupt im übertragenen Sinn. Mein früherer Agent Ronald Wilford sagte einmal, Wolfgang Wagner sei der «beste Intendant der Welt», und ich kann das nur bestätigen. Neben der New Yorker Met habe ich nur einen einzigen Theaterbetrieb erlebt, der ähnlich perfekt geführt und organisiert wurde: die Bayreuther Festspiele.
    Über Wolfgang Wagners fränkisch hemdsärmelige Art ist mindestens so viel gespottet worden wie über ihn als Regisseur. Wenige verstanden, dass das Hemdsärmelige, Polterige für ihn auch eine Maske war, eine Rolle, in die er schlüpfte, um sich zu schützen. Und was seine Inszenierungen angeht, so habe ich seine profunde Kenntnis der Partituren und des Hauses extrem schätzen gelernt. Wolfgang Wagner konnte einem detailliert auseinandersetzen, warum er einzelne Szenen in den «Meistersingern» so und nicht anders gestellt hatte: damit der Stolzing an dieser oder jener Stelle nicht brüllen musste oder der Chor sich in der gefürchteten Prügelfuge am Ende des zweiten Aktes möglichst gut hörte. Er wusste auf Anhieb, welches Bühnenbild funktionierte und welches nicht. Und er war in musikalischen Fragen ein unverzichtbarer Ratgeber. Er war unser «bester Assistent» – und immer sehr direkt. Dann kamen die Anrufe unten im Graben: «Herr Wagner sagt, das ist zu langsam.» «Herr Wagner sagt, das ist zu laut.» Manchmal war er’s auch persönlich. Das Grabentelefon klingelt ja nicht, es blinkt, in der einen Hand hält man den Hörer, mit der anderen dirigiert man weiter. An vielen Stellen habe ich bis heute die knarrende Stimme des «Alten» im Ohr. Erst kommt das Handwerk, dann das Gefühl – auch das habe ich von Wolfgang Wagner gelernt.
    Natürlich konnte er unangenehm werden, das versteht sich bei einer so großen Persönlichkeit fast von selbst. Die Tochter und den Sohn aus erster Ehe vom Hügel zu jagen, von den Kindern seines Bruders Wieland ganz zu schweigen, dazu gehörte schon einiges. Und die Regelung seiner Nachfolge zählt sicher zu den absurdesten deutschen Kultur-Krimis des 20. und 21. Jahrhunderts, vielleicht der letzte dieser Art. Seit 1987 besaß Wolfgang Wagner den erwähnten Lebenszeitvertrag als Festspielleiter und führte die politisch Verantwortlichen damit gehörig an der Nase herum. Mehrere Findungsverfahren wurden eröffnet und ergebnislos

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