Mein Leben mit Wagner (German Edition)
fortzusetzen? Bayreuth hat, wonach jedes Festival lechzt und dürstet und wofür weltweit viel kreative Energie und Geld aufgewendet werden: eine echte Exklusivität, ein absolutes Alleinstellungsmerkmal. Die Festspiele sind die Wagners – und die Wagners sind die Festspiele. Diese Identität ist ein unbezahlbar hohes Gut.
Richtig verabschiedet habe ich mich von Wolfgang Wagner nicht. Den Gedanken eines letzten Mals verbat ich mir regelrecht. Aber mehrfach besucht habe ich ihn, als er das Haus nicht mehr verließ, und ich weiß noch, wie winzig er mir vorkam, wie gläsern. Ein Mensch im Verschwinden, im Verlöschen, einer, durch den alle Wirklichkeit hindurchfloss. Selbst in diesem Zustand aber hatte er noch blitzwache Momente. Er erkannte mich immer gleich und streckte mir die Hand hin. Gesprochen hat er nicht mehr viel, dafür erzählten Katharina und ich ihm dies und das, und er hörte zu. Nicht lange, vielleicht 20 Minuten, aber man merkte, er freute sich. Besonders wenn man sagte, Herr Wagner, Sie müssen wieder rüber ins Festspielhaus, die Leute warten auf Sie!
Wolfgang Wagner starb am 21. März 2010, an einem Sonntag um zwei Uhr morgens. Drei Wochen später, am 11. April, fand im Festspielhaus bei sehr frischen Temperaturen (das Haus hat keine Heizung) eine Trauerfeier statt. Der Chor und das Orchester musizierten, das musikalische Programm hatte Wolfgang Wagner selbst zusammengestellt, ich durfte dirigieren. Lediglich ein Foto beherrschte die Bühne: der schätzungsweise 80-Jährige mit Goldrandbrille und Krawatte – so kernig, so unverwüstlich, als würde er im nächsten Augenblick von der Leinwand springen und mit einem einzigen Stockhieb die ganze Versammlung auflösen.
Der Mythos
Manchmal komme ich mir in Bayreuth vor wie im «Parsifal»: Jahr für Jahr enthüllen wir den Gral – und wissen doch nie, ob er es ist, ob wir ihn tatsächlich gefunden haben oder jemals finden werden. Und deshalb müssen wir alle immer wiederkommen: die reinen Toren und die Zauberinnen, die Blumenmädchen, die leidenden Herrscher, die Ritter und Knappen. Wagners Figuren neigen bekanntlich dazu, sich in der Wirklichkeit ihre Wiedergänger zu suchen, auch das macht Bayreuth zu einem so besonderen Ort.
Es ist wunderbar, wenn man sich wie in Bayreuth in eine Gemeinschaft der möglichst Gleichen einfügen kann; das Ziehen an einem künstlerischen Strang ist etwas, das mich beglückt. Solitäre hingegen, Einzelgänger, Eigenbrötler tun sich hier schwer – und schlechtes Benehmen fällt schneller auf als andernorts. Auch menschlich muss es nämlich stimmen, darauf wird sehr geachtet, und damit sind wir wieder beim Familiären: Was nützt mir ein Stinkstiefel, der göttlich Oboe spielt? Sicher nützt er mir als Dirigent, aber nur kurzfristig. Wenn er die Harmonie in der Gruppe stört, weil er persönlich im Graben nicht zu Rande kommt, kann das auch künstlerischen Schaden anrichten. Insofern wird jeden Sommer fast über jeden Orchestermusiker und jeden Chorsänger diskutiert und neu entschieden. Niemand hat eine Dauerfahrkarte nach Bayreuth in der Tasche.
Das bedeutet nicht, dass es auf dem Grünen Hügel keine schwierigen Persönlichkeiten gäbe oder alle pflegeleicht wären. Wilhelm Furtwängler und Arturo Toscanini hatten bestimmt beide keine Kreide gefressen, und wer sich an Karajans WC erinnert oder an die diversen Regie-Skandale der Festspielgeschichte (von Götz Friedrichs «Holländer» bis Christoph Schlingensiefs «Parsifal»), der weiß, dass wohl eher das Gegenteil der Fall ist. Unter Gleichen zu sein, hat nichts mit «Gleichschaltung» zu tun. Bayreuth ist ein Paradox und lebt dieses Paradox, das muss man aushalten. Es ist der heiligste und freieste Ort zugleich, meint Hunnentreue und Grabschändung, Klischee und Anti-Klischee, Aufklärung und Überwältigung, Pragmatismus und Utopie. Alles ist hier möglich. Und immer auch das Gegenteil. Es ist möglich, seit 100 Jahren die immer gleichen Stücke zu spielen und in der Beschränkung zu schwelgen. Es ist möglich, aus der Welt zu fallen und die Welt zu erobern. So wie ein Sommer in Bayreuth per se ein starkes Votum gegen die Globalisierung des Musikbetriebs darstellt. Wir bräuchten so viel mehr davon. Sechs oder acht Wochen in der Provinz, kein Flieger, keine Hotels, nur ab und zu eine knusprige Landente in Gräfenthal oder ein Besuch in der Lohengrin-Therme – ist das nicht der einzig wahre Luxus?
Wenngleich Wagner uns erstklassiges Material
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