Mein Leben mit Wagner (German Edition)
bewusst. «Ich betrat nun eine neue Bahn», schrieb er später, als berichtete er über eine fremde Person – nämlich «die der Revolution gegen die künstlerische Öffentlichkeit der Gegenwart». Dabei wendet sich sein umstürzlerisches Denken gegen alles Französische aus Prinzip, aber auch gegen die Singspiel-Konventionen in der deutschen Operntradition. Mit dem «Holländer» begibt Wagner sich in einen ästhetischen Zweifrontenkrieg. Und er nimmt dabei, wie es seine Art ist, den Mund ziemlich voll. Die Partitur zählt insgesamt acht große Nummern, die ihrerseits aus Introduktionen, Rezitativen, Arien, Balladen, Chören, Duetten usw. zusammengesetzt sind. Wagner allerdings behauptet das Gegenteil: Er habe, um die Holländer-Sage «in einem fort» erzählen zu können, «den modernen Zuschnitt in Arien, Duetten, Finale’s etc.» sogleich aufgeben müssen – zugunsten eines mehr oder weniger durchkomponierten Ganzen.
Vielleicht war hier mehr der Wunsch Vater des Gedankens. Aber die Ansätze, das Korsett der Nummernoper zu sprengen, sind im «Holländer» unüberhörbar. Das Duett Holländer /Senta im zweiten Akt etwa («Wie aus der Ferne längst vergangner Zeiten») weitet sich zu einer rezitativisch-arios verflochtenen Großform. Und auch die beiden Orchesterzwischenspiele (die es erlauben, die Oper ohne Pause zu spielen) zielen in diese Richtung. Daneben aber, als wollte Wagner mit dem Finger in der Wunde rühren, harren die Zeugen der musikalischen Vergangenheit weiter aus. Eriks Kavatine «Willst jenes Tags du nicht mehr dich entsinnen» im dritten Akt beispielsweise hält den Fortgang des dramatischen Geschehens ungebührlich auf, außerdem wirkt sie, als habe jemand aus Versehen ein falsches Fenster geöffnet, ein italienisches à la Rossini, ein Belcanto-Fenster, das aber natürlich ein toller Kontrast ist zum folgenden Finale. Nummern wie der Spinnerinnenchor oder Dalands «Mögst du, mein Kind, den fremden Mann willkommen heißen» wiederum lehnen sich geradezu provozierend an die Tradition der biedermeierlichen Spieloper an. Der Effekt aber ist ungeheuerlich, wenn Wagner die irrwitzige Spannung nach der ersten Begegnung zwischen Senta und dem Holländer durch diese leichte Arie Dalands bricht. Und besonders interessant wird es, sobald die Stile sich überlagern und durchdringen: am überzeugendsten im Anfangsspektakel des dritten Aktes, wenn der Geisterchor der Holländer-Mannen den konventionellen Matrosenchor gleichsam überwältigt und zerlegt.
1860, als Wagner eine konzertante Aufführung des «Holländers» in Paris vorbereitete, drehte er nicht nur das Finale in Richtung Verklärung, sondern erweiterte auch die Ouvertüre um eine positive Schlusswendung. Diese Version wird heute meistens gespielt, zumal sie auch in der Instrumentation etliche Verbesserungen und Verfeinerungen aufweist. Wobei ich die beiden Fassungen ungern gegeneinander ausspielen würde. Die sogenannte Urfassung ist sicher hoch interessant, weil sie uns einen tiefen Blick in die Werkstatt gewährt. Sie ist roher, härter, hat noch mehr Blech. So gesehen ist die zweite Fassung nicht unbedingt besser, sie ist einfach anders, geschmeidiger in ihren Konturen und vor allem: praxisnäher. Man sollte nicht vergessen: 1860 hatte Wagner den «Holländer» bereits diverse Male an diversen Orten selbst dirigiert, er konnte also auf seine eigene Hörerfahrung zurückgreifen. Er wusste, wo die Balance nicht stimmte und die Sänger überfordert waren, und hat entsprechend reagiert.
Aufnahmen
Seltsamerweise wird die «Holländer»-Ouvertüre so gut wie nie im Konzert gespielt (im Gegensatz etwa zur «Rienzi»- oder zur «Tannhäuser»-Ouvertüre), dabei ist sie ein so effektvolles Stück! Die Dämonie des Holländers, Sentas von Hörnern, Englischhorn und anderen Holzbläsern getragenes Erlösungsthema, dazu das aufgewühlte Meer: Plastischer lässt sich eine Atmosphäre kaum erzeugen. Auch gibt es nur wenige Einzeleinspielungen der Ouvertüre. Dafür hat man unter den Gesamteinspielungen die Qual der Wahl. Mein persönlicher Favorit wäre wahrscheinlich Hans Knappertsbusch: ein Mitschnitt der Bayreuther Festspiele von 1955 mit Hermann Uhde als hochnoblem Holländer, Astrid Varnay als furioser Senta und Wolfgang Windgassen als Erik (Orfeo). Was der alte «Kna» hier an romantischer Tiefenschärfe und psychologischer Binnenspannung aus dem «mystischen Abgrund» schöpft, ist sensationell. Dieses herbe und doch weichkantige Blech,
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