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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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ergeben noch sich einbilden, in der Analyse läge bereits die ganze Kunst.
    Musik
    Beim Publikum kommt der «Tannhäuser» immer gut an. Er hat mitreißende Melodien, eine großartige Ouvertüre, der musikalische Aufbau ist leicht zu verstehen, und der dritte Akt ist ohnehin ein Traum. Gleichwohl hat man es bei dieser Partitur mit einem typischen Zeugnis des Übergangs zu tun. Anders als im «Holländer» ist sie nicht in einzelne Nummern unterteilt, sondern gilt als durchkomponiert – was nicht bedeutet, dass sich nichts Nummernhaftes darin fände. Beispiele sind Elisabeths Hallenarie und ihr Gebet, Wolframs wundervolles Lied an den Abendstern oder Tannhäusers Romerzählung. Aber es gibt eine entscheidende Neuerung: Diese «Nummern» sind keine Bravourstücke im herkömmlichen Sinn. Sie finden sich vielmehr in den Gang der Handlung eingeschmolzen und tragen diese mit. Ähnlich verfährt Wagner mit den Chören (Einzug der Gäste im zweiten Akt, Pilgerchor im dritten) und den Bühnenmusiken. Wenn man so will, macht er sich im «Tannhäuser» daran, den verbliebenen Rest an Opernkonvention zu verflüssigen.
    Das nachzuvollziehen, ist gar nicht so leicht – auch deshalb nicht, weil die diversen Fassungen eine eindeutige, letzte Werkgestalt kaum hergeben. Noch in seinem Todesjahr gesteht Wagner in einem berühmten Wort gegenüber Cosima, er sei der Welt noch den «Tannhäuser» schuldig. Ich will trotzdem versuchen, eine Bresche durch das Fassungsgewirr zu schlagen: 1847, zur Dresdner Wiederaufnahme, ergänzt Wagner die Partitur von 1845 im dritten Akt um ein tatsächliches – und nicht nur imaginäres – Erscheinen der Venus sowie um einen tatsächlichen – und nicht nur erzählten – Trauerzug mit Elisabeths Totenbahre. Was sich lediglich in Tannhäusers Kopf zutragen sollte (und in der Phantasie des Publikums), findet den Weg zurück in die szenische Realität. Zufrieden ist Wagner jetzt erst recht nicht. 1861, in Paris, erweitert er die Venusberg-Szene des ersten Aktes um ein großes Bacchanal mit Ballett und Pantomime und streicht im zweiten Akt das Lied Walthers von der Vogelweide. Doch nach sage und schreibe 164 Proben gerät die Aufführung an der Pariser Oper zu einem der größten Theaterskandale der Wagner-Geschichte: Zwar hat Wagner mit dem Bacchanal der Forderung nach einer großen Balletteinlage genügt, wie sie das Pariser Publikum nun einmal gewöhnt war. Dummerweise aber setzte er diese Einlage an die falsche Stelle – eben an den Anfang des ersten Aktes und nicht, wie üblich, in die Mitte des zweiten. Wie sollten die Mitglieder des renommierten Jockey-Clubs nun an ihrem Ritual festhalten, nach dem abendlichen Diner in aller Ruhe, quasi zur Verdauung, in die Oper hinüber zu schlendern und sich dort an üppigen Venusleibern zu ergötzen? Nach drei chaotisch verlaufenden Vorstellungen zieht Wagner seine Partitur indigniert zurück. Das Wagner-Virus verbreitet sich in Frankreich trotzdem (oder wegen des Skandals?) rasend schnell.
    Was bleibt, ist ein seltsamer Zwitter. Die «Dresdner» Fassung mag wegen ihrer knapp gehaltenen Venusberg-Episode befremden, die «Pariser» Fassung tut es wegen ihrer stilistischen Ungereimtheiten. Natürlich merkt man der «Pariser» ihre «Tristan»-Nähe, ja -Verliebtheit an (den «Tristan» hatte Wagner 1859 vollendet): Diese üppige chromatische Farbpalette, der Impressionismus im Bacchanal – dagegen kann es die Diatonik, die Tonleiterntreue der verknöcherten, selbstgerechten Wartburg-Gesellschaft nur schwer haben. Und mit ihr das Publikum: Erst eine konventionelle Ouvertüre im Dresdner Stil, dann der Venusberg mit aller «Tristan»-Pracht und -Morbidität – und dann soll man sich wieder mit Dresden zufriedengeben? Das ist kaum auszuhalten.
    Aus Gründen der Ausgewogenheit würde ich immer für die Dresdner Fassung plädieren. Als ich den «Tannhäuser» 2001 in Bayreuth dirigierte, war das die längste Dresdner Fassung aller Zeiten. Wir haben die Hirtenmelodie im ersten Akt verlängert (der Notenbeleg dafür lag pikanterweise in der Pariser Bibliothèque nationale), außerdem fanden wir für das Finale des zweiten Aktes 20 oder 25 Takte mehr für den Chor. Selbstverständlich sang der Tannhäuser im ersten Akt alle drei Strophen seiner Arie und in der großen Ensembleszene des zweiten Aktes, wie vorgeschrieben, siebenmal «erbarm dich mein» (in beiden Fällen werden heute gerne Abstriche mit Rücksicht auf die Kondition des Sängers gemacht).

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