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Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Titel: Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Damien Echols
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mein Bett und hielt das Gesicht dicht an die Scheibe, aber er flog nicht weg. Unsere Augen waren nur fünf Zentimeter weit voneinander entfernt, als wir einander anstarrten. Der Vogel war staubgrau am ganzen Körper, aber es war kein Spatz. Ich weiß, wie ein Spatz aussieht. Das Merkwürdige war, dass er völlig still und mit weit offenem Schnabel dasaß. Ein dünner Speichelfaden spannte sich von der oberen zur unteren Schnabelhälfte, und ich musste an einen Spinnwebfaden denken. Nach einer Weile hob ich die Hand und klopfte vor seinem Kopf an die Scheibe. Der Vogel tat keinen Lidschlag. Er starrte mich an mit seinem glänzenden schwarzen Auge und seinem offenen Schnabel. Ich hatte noch nie erlebt, dass ein Vogel sich so benahm. Es war, als habe es etwas zu bedeuten, als sei es eine Art Vogel-Omen. Ich bin sicher, dieser Vogel roch wie eine aufziehende Regenfront.









SECHSUNDZWANZIG
    Das zwölfte Jahr, das ich in diesem Käfig verbrachte, war bei Weitem das schlimmste für mich. Meine Nerven drohten zu zerreißen, und mein Leben war voller Trübsal. In diesem Jahr hätte ich fast aufgegeben und den Willen zum Leben verloren. Mit meiner körperlichen Gesundheit ging es rapide bergab, die Anstrengung, die es kostete, unter diesen Umständen eine Ehe zusammenzuhalten, brach mir das Kreuz, und ich hatte die letzten Reste meiner Willenskraft aufgebraucht. Dann geschah ein Wunder. Die Boston Red Sox gewannen die World Series. Johnny Damon rettete mir meinen Verstand.
    Baseball hat etwas Mystisches, eine gesunde, schimmernde Beschaffenheit, die ihn nicht nur Spiel, sondern Mythos sein lässt. Ich sehe mir Baseball an, weil es beruhigt und tröstet, weil es blendet und verhext. Wenn ein Spieler mit dem Schläger in der Hand ans Plate tritt, hört er auf, ein Mensch zu sein, und wird zur Verkörperung der Hoffnung. Er wird zu einer magischen Kraft, die gegen Krankheit und schwarze Verzweiflung kämpfen kann. Wenn jemand einen Ball über die hintere Wand schlägt, kann man sich etwas wünschen wie bei einer Sternschnuppe. Ein Mann, der diesen Schläger schwingt, wird zur Naturgewalt, zu einem Akt göttlicher Intervention. Er stößt ein Loch in die Dunkelheit und erinnert uns daran, dass Wunder nicht restlos verschwunden sind. Er ist eine Sibylle in einem Sporttrikot, ein Verbindungsmann, durch den alles, was gut ist, leuchten kann.
    Es gibt hinter diesen Mauern nur zwei Dinge, die mich beruhigen oder entspannen können. Das eine ist die heilige Messe, das andere ist Baseball. Es gibt einen Priester, der zu Besuch kommt und maximal drei von uns in eine Besenkammer führt, die als Kapelle dient. Er liest die ganze Messe in dieser Kammer, und für die Christmette bringt er sogar einen Bischof mit. Ein Baseballspiel im Fernsehen hat auf mich die gleiche Wirkung wie ein Liegestuhl auf der Veranda. Es ist eine Schmusedecke. Wenn ich den tiefsten Punkt der Hoffnungslosigkeit erreicht habe, schalte ich ein Spiel ein, lege mich auf mein Bett und ziehe mir die Decke über den Kopf. Ich lasse einen kleinen Spalt offen, sodass ich mit einem Auge den Fernseher sehen kann. Der Klang der Sprecherstimme lullt mich ein und entspannt mich auf eine beinahe hypnotische Weise.
    Vielleicht rührt das Tröstliche am Baseball für mich aus der Tatsache, dass ein paar meiner besten Kindheitserinnerungen damit zu tun haben, dass ich mit Nanny Spiele anschaue. Sie war ihr Leben lang ein Fan der St. Louis Cardinals und hat nie ein Spiel versäumt. Wenn sie den Blick vom Bildschirm wandte und mich anschaute, sah ich, dass sie die Augen eines jungen Mädchens hatte. Damals machte es mir Angst, denn ich war zu jung, um zu verstehen. Ich verstand nicht, dass sie in diesen Momenten keine Großmutter mehr war. Sie war nicht mehr alt, nicht mehr das Opfer einer schleichenden Arthritis. Sie war behende und jung und eine Fremde für mich. Sie war in einer anderen Welt.
    Ich saß neben ihr auf der Couch, wenn sie fernsah, oder ich lag still davor auf dem Boden. Zu Weihnachten schenkte sie mir Baseballkarten, Schutzhüllen und Alben, um sie einzukleben. Ich wuchs zum Boston-Fan heran, aber im Herzen habe ich immer noch eine Schwäche für St. Louis. Wenn ich sie spielen sehe, fühle ich meine Großmutter neben mir.
    Baseball ist wie ein Schlupfloch für mich. Wenn ich ein Spiel sehe, umgibt mich das Gefühl, dass letzten Endes alles gut werden wird. Es erinnert mich daran, dass alles Mögliche passieren kann, wenn ich nur lange genug durchhalte.
    Eines

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