Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
Morgens im Jahr 2006 rief ich Lorri zu unserer gewohnten Zeit an, morgens um acht, und sie berichtete mir, dass mehrere Forensiker einen großen Teil des Beweismaterials noch einmal untersucht hätten und zu dem Ergebnis gekommen seien, dass die überwiegende Mehrzahl der Wunden an den Leichen post mortem zugefügt worden seien, und zwar ihrer Ansicht nach von Tieren. Das war ein großer Schritt in der Entwicklung zu meinen Gunsten, aber davon hatte es schon viele gegeben.
Die forensischen Untersuchungen waren durch Peter Jackson und Fran Walsh ermöglicht worden, die Paradise Lost 2005 gesehen und Geld für meinen Rechtshilfefonds gespendet hatten. Sie hatten sich auch an Lorri gewandt, die ihre Unterstützung und ihre Mittel mit offenen Armen willkommen hieß. Es war ein Wendepunkt für mich und für Lorri; es sollte zwar noch ein paar Jahre dauern – und war in jenem Augenblick noch keineswegs garantiert –, aber Peter und Fran hatten eine Menge mit meiner eigentlichen Entlassung zu tun.
Anschwellende Gerüchte behaupten, Tiere einer profaneren Art seien verantwortlich für den größten Teil der Verletzungen an den ermordeten Kindern. Allmählich klingen sie sogar für mich überzeugend, und ich bin von Natur aus eher skeptisch. Wenn ich das alles nicht so satthätte, würde ich wahrscheinlich in Aufregung geraten, aber heutzutage halte ich nicht mehr den Atem an, wenn ich auf etwas warte, denn falsche Hoffnungen stehen im Zentrum dieses Spiels. Sie spannen dich immer wieder auf die Folter wie einen Junkie, wenn du nicht lernst, ihre Tricks zu durchschauen. Ich bin nicht undankbar, aber ich bin auch nicht mehr so jung, wie ich einmal war. Der empfindliche Reflex von Enthusiasmus und Hoffnung, den ich als junger Mann hatte, ist in diesem einsamen Land eines schweren Todes gestorben. Meine Augen leuchten erst auf, wenn die Gerüchte handfeste, materielle Gestalt annehmen.
Ein Teil meiner selbst hat immer gewusst, dass ich eines Tages aus dem Gefängnis hinausspazieren würde. Nicht auf einer intellektuellen Ebene, aber das Wissen reichte über die Ebene dessen, was man Instinkt nennt, hinaus. Ich wusste es nicht mit dem Kopf, nicht mal mit dem Herzen, aber mit meiner Seele. Ich wusste es, wie ich weiß, dass die Sonne auf- und wieder untergehen wird. Ich kam nicht auf die Idee, es in Frage zu stellen oder überhaupt darüber nachzudenken. Es war einfach so – vielleicht, wie man einen Film sieht und weiß, dass der Held am Ende gewinnen muss. Man muss damit rechnen, dass er Gefahren, Strapazen und Herzweh erleidet, aber man weiß, dass er selbst in der finstersten Stunde siegreich bleiben wird. Ich wusste, dass die Menschen, die mich lebendig in die Hölle geworfen hatten, böse waren, und ich konnte mir kein Universum vorstellen, dass dem Bösen erlaubte, den Sieg davonzutragen. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich weiß nur zu gut, dass jeden Tag in jedem Winkel der Welt entsetzliche Gräuel geschehen. Aber das waren nicht meine Geschichten. Ich bin aufgewachsen mit Geschichten, habe mich davon ernährt, darin gelebt. In bin aufgewachsen in dem Wissen, dass mein eigenes Leben eine Geschichte war, und in den Geschichten, die ich las, war immer Magick. Deshalb war es mir in Fleisch und Blut übergegangen, in die tiefsten Schichten meines Wesens, Magick auch in meinem Leben zu erwarten. Ich hatte grenzenloses Vertrauen darauf, dass Magick mich führen und retten würde.
Ich hatte eigentlich nie sehr viel mit den technischen juristischen Aspekten der Arbeit an meinem Fall zu tun. Immer wenn ich versucht habe, mich damit zu befassen, etwas darüber zu lesen und es zu verstehen, fühlte ich mich innerlich leer. Das System war eine seelenlose Hülse. Wenn ich damit in Kontakt kam, saugte es Hoffnung und Magick aus mir heraus, und so vermied ich es um jeden Preis. Ich überließ die Formalitäten und die juristischen Haarspaltereien den Rechtsanwälten. Dabei war es nicht so, dass ich Vertrauen zu ihnen hatte – zumal zu den ersten –, denn das hatte ich nicht. Mein Vertrauen gehörte Lorri.
In den ersten zwei Jahren meiner Haft rührte niemand auch nur einen Finger für mich. Es war Lorri – und nur Lorri –, durch die sich das änderte.
Es passierte nicht über Nacht. Als Lorri zu einem Teil meines Lebens wurde, begann sie, sich weiterzubilden und mehr und mehr über die juristischen Prozeduren zu lernen. Als klar wurde, dass mein Pflichtverteidiger dafür sorgen würde, dass ich getötet wurde, fing
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