Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
für sich. Das Flackern ist ein Ort, an dem alles in Form einer Serie von ruckhaften Bewegungen existiert.
Ich kann das Zittern meiner Hände nicht beherrschen, aber ich spüre die Kälte nicht.
Letzte Nacht hatte die Rose einen Traum über Prophezeiungen und bürokratischen Bullshit. Sie schwamm in einem Wettkampf und konnte sich buchstäblich durch das Wasser ziehen, indem sie sich mit den Händen voranhangelte, wo sie Halt fand. Nachdem sie klar gewonnen hatte, disqualifizierten die Kampfrichter sie wegen irgendeiner formalen Kleinigkeit. Sie war wütend, denn sie erkannte es als das, was es war: sinnlose Bürokratie.
Sie wusste, es symbolisierte den Fall. Das Gute war, dass der Traum sie mit Gewissheit erfüllte. Sie wusste, wenn sie einmal gewonnen hatte, konnte sie wieder gewinnen. Beim nächsten Mal würde sie sie in ihrem eigenen Spiel schlagen. Scheiß auf Verteidiger, Staatsanwälte, Richter, Lügner, Polizisten und alle anderen, die sich uns entgegenstellen. Sie werden niemals gewinnen, denn wir werden nicht aufgeben. Schlagt mich neunundneunzig Mal nieder, und ich stehe hundert Mal wieder auf.
Vor mehreren Jahren wurde ich in einem Betonkasten tief im Herzen eines Supermaximalsicherheitsgefängnisses eingeschlossen, und seitdem habe ich keine frische Luft mehr geatmet, ich habe kein Sonnenlicht gesehen, kein Gras unter meinen Füßen gespürt und auch sonst nichts von dem erlebt, was man mit dem wirklichen Leben verbindet. Mein Lebensraum ist so beengt und unnatürlich wie der eines Astronauten im All. Das alles bringt mich zu dem Schluss, dass man mich behandelt wie ein Schlachtkalb – und aus den gleichen Gründen.
Die Gefängnisverwaltung will nicht, dass man allzu gesund ist, denn dann wäre man stark. Je schwächer sie dich halten können, desto leichter wird ihre Arbeit, zumal wenn eine Hinrichtung bevorsteht. Wenn sie dafür sorgen, dass du weich bleibst, indem sie dich in einem winzigen Raum sperren, in dem du dich kaum bewegen kannst, und dich dann mit Fett und Kohlenhydraten füttern und gleichzeitig ein konstant hohes Stresslevel beibehalten, dann stirbst du, wenn der Augenblick der Hinrichtung gekommen ist, ziemlich schnell. Verdammt, die meisten Leute sind schon vierteltot, wenn sie die Todeskammer betreten. Tatsächlich darf ich es übrigens gar nicht mehr so nennen, glaube ich – Todeskammer. In diesen politisch korrekten Zeiten haben sie ihr einen anderen, weniger sprechenden Namen gegeben, an den ich mich aber nicht genau erinnern kann. Trotzdem wissen hier alle, dass dort das offizielle Töten vorgenommen wird.
Ein Freund hat mir neulich von einem Artikel in einer überregionalen Zeitschrift erzählt, in dem es hieß, diese Supermax-Gefängnisse trieben die Häftlinge in den Wahnsinn. Das weiß ich schon, weil ich jeden Tag live dabei bin. Vor nicht allzu langer Zeit drückte ein Wärter aus Versehen auf den Knopf, der sämtliche Zellentüren in einem Block öffnet. Sofort schlug ein schizophrener Häftling einem anderen mit einer Eisenstange den Schädel ein. Keiner der beiden hätte beim besten Willen als geistig gesund betrachtet werden können.
Die Wahrnehmung hier drin verzerrt sich, und das führt zu bizarren Verhaltensweisen. Das liegt daran, dass es hier nichts gibt, womit ein Mensch sich vergleichen könnte. Es gibt kein Barometer zur Beurteilung dessen, was » normal « ist, und deshalb wandern die Gedankenprozesse nach und nach in eigentümliche Richtungen. Ehe du dichs versiehst, dreht einer durch und schreit, da sei Blut in seinem Essen. Anfangs war ich entsetzt, wenn so etwas passierte, und wurde von einem Zustand erfasst, den man nur als fassungsloses Grauen bezeichnen kann. Inzwischen geht mir ein rasender Irrer nur noch leicht auf die Nerven.
Nach einer Weile fragt man sich, ob man vielleicht selbst den Verstand verloren hat. Woran würde man es merken? Die Verrückten halten sich ja anscheinend alle für völlig normal, also erkennen sie den Unterschied offenbar nicht. Ich kann darüber nicht sehr lange nachdenken, weil ich sonst Magenkrämpfe kriege. Das Letzte, was ich auf meiner aktuellen Liste der trübsalerregenden Probleme noch gebrauchen kann, wäre der Wahnsinn.
Die Gerichte haben entschieden, es sei unmenschlich, einen Wahnsinnigen hinzurichten. Deshalb fängt man hier jetzt ein paar Wochen vor der Urteilsvollstreckung an, die Psychotiker mit Drogen vollzupumpen, damit sie klar genug im Kopf sind, um zu begreifen, dass sie an einem bestimmten Tag
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