Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
leiden. Es ist der Sinn, den wir hinter den Tragödien unseres Lebens immer suchen. Der Schmerz macht uns tiefer und brennt Unreinheit und selbstsüchtige Kleinlichkeit weg. Er macht uns fähig zu Einfühlsamkeit und Mitgefühl. Er macht uns fähig zur Liebe. Der Schmerz ist das Feuer, das uns erlaubt, aus der Asche dessen aufzusteigen, was wir waren, und klarer zu begreifen, was wir werden können. Wenn man einen Schritt zurücktreten und die Schönheit dieses Vorgangs sehen kann, ist er unbeschreiblich und erstaunlich.
Mein Leben lang habe ich die Leute sagen hören: » Warum lässt Gott zu, dass so etwas geschieht? « Ich glaube, während wir nur das Tragische sehen, sieht Gott nur das Schöne. Während wir das Elend sehen, sieht die Gottheit uns schwerfällig torkelnd auf das Licht zugehen. Ich glaube, eines Tages werden wir so hell leuchten wie die Erzengel selbst.
Ich danke demjenigen, der mir dieses Zitat geschickt hat. Ich habe es an die Wand gehängt, sodass ich es mehrmals am Tag sehe. Ich werde es nie vergessen.
So gut wie jedes Mal, wenn ich interviewt werde, fragt man mich, was ich am meisten vermisse. Hundert Dinge gehen mir dann durch den Kopf, und bei den Erinnerungen habe ich im Bauch das Gefühl des freien Falls. Was ich vermisse? Den Regen. Unter dem Himmel zu stehen und zum Mond und zu den Sternen hinaufzuschauen. Den Wind. Katzen und Hunde. Richtige Kleidung, eine richtige Zahnbürste. Mit einem richtigen Stift zu schreiben, Eistee zu trinken, Eiscreme zu essen und spazieren zu gehen.
Ich bin versucht zu sagen, was ich am meisten vermisse, sind Früchte. Ich habe seit ungefähr acht Jahren kein frisches Obst mehr gegessen, und vorher habe ich es nur einmal im Jahr bekommen; da gab es zu Weihnachten für jeden Gefangenen zwei Äpfel und zwei Apfelsinen, aber damit haben sie aufgehört, weil es, wie sie behaupteten, » eine Sicherheitsgefährdung « war, genau wie Teebeutel und Zahnseide. Also ist es fast ein Jahrzehnt her, dass ich Obst bekommen habe. Gegen Skorbut bekommt jeder hier einen Becher verwässerten Orangensaft zum Frühstück. Der hat nicht viel Geschmack, aber so viel Vitamin C, dass einem nicht die Zähne ausfallen.
Am Ende ist es aber nicht das Obst, das ich vermisse. Wenn man alle Entbehrungen zusammen nimmt, ist es dies: Ich vermisse es, wie ein Mensch behandelt zu werden.
12. FEBRUAR
Für den Körper ist das Gefängnis die Hölle. Einer der Gründe, weshalb ich keine Briefe mehr schreiben kann wie früher, ist der, dass es meine Augen ruiniert hat, vierundzwanzig Stunden täglich in dieser Zelle zu sein. Früher habe ich jede Woche drei oder vier Bücher gelesen. Heute schaffe ich durchschnittlich eins im Monat, wenn es nicht zu klein gedruckt ist. Mit dem Auge ist es wie mit jedem anderen Körperteil: Was rastet, das rostet. Auf engem Raum hat man nie Gelegenheit, etwas zu sehen, das mehr als einen halben Meter weit entfernt ist; also verliert man als Erstes die Fähigkeit, in die Ferne zu sehen. Selbst mit meiner Brille kann ich höchstens drei Meter weit sehen. Ohne sie verschwimmt alles jenseits von zehn Zentimetern zu Farbe und Bewegung.
Die Zähne gehen zum Teufel, weil es praktisch keine Zahnpflege gibt. Vor ein paar Jahren wurde ich von einer Meute sadistischer Wärter brutal verprügelt, und an mehreren meiner Zähne wurden dabei die Nerven verletzt. Das Gefängnis stellte mich vor die Wahl, mit den Schmerzen zu leben oder mir die Zähne ziehen zu lassen. Seitdem habe ich Schmerzen (das Gefängnis lehnt Wurzelkanalbehandlungen grundsätzlich ab, auch wenn es Wärter sind, die den Schaden zu verantworten haben).
Diabetes und Herzerkrankungen entstehen, weil man keine Bewegung hat. Die Zellen hier sind gerade groß genug, um zwei Schritte vor und zwei Schritte zurück zu machen. Selbst wenn man täglich eine Stunde trainiert, bleiben dreiundzwanzig Stunden, an denen man sich praktisch überhaupt nicht bewegt. Dazu kommt die billigste Ernährung, die man sich vorstellen kann – einfache Nudeln, weißer Reis, Weißbrot, Grütze und so weiter –, alles zusammen das perfekte Rezept für den Niedergang. Wenn man nicht sehr angestrengt dagegenarbeitet und sehr, sehr vorsichtig ist, stirbt man hier.
Letztes Jahr gab es in den Nachrichten eine kurze Meldung über einen kranken Gefangenen, der auf die Intensivstation gebracht werden musste, nachdem er mehrere Tage lang in seinen eigenen Fäkalien gelegen hatte. Am Ende wurden dafür zwei Wärter entlassen, aber nur,
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