Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
Schokoladenstückchen sind auf eine Weise miteinander verbunden, die ich nicht genau beschreiben kann. Für mich wenigstens. Ich weiß, dass es wie eine Kommunion ist, einen Hershey’s Kuss zu essen – als kostete ich ein winziges Stück vom Dezember. Zu anderen Jahreszeiten esse ich sie nicht gern, denn ich möchte nicht, dass diese spezielle Assoziation verblasst.
Manchmal glaube ich, der allergrößte Teil des Jahres besteht für mich aus Erwartung. Das Jahr ist die Reise, der Dezember ist das Ziel. Am 30. November bleibe ich immer den ganzen Abend auf, damit ich den Dezember begrüßen kann, wenn er kommt. Ich möchte ihn sozusagen an der Tür empfangen. Und am 31. Dezember bleibe ich wieder auf, nicht um das neue Jahr anfangen zu sehen, sondern um die letzten paar Augenblicke meines Lieblingsmonats auszukosten. Oktober und November sind wirklich richtig gut, aber der Dezember ist wunderbar.
Meine Lieblingszeitspanne dauert vom 20. bis zum Morgen des 25. Dezember. In dieser Zeit habe ich das Gefühl, dass die ganze Welt zum Stillstand kommt. In diesen paar Tagen stehen mir die Nackenhaare zu Berge, und die Welt fühlt sich an wie ein Pendel, das zur einen Seite ausgeschlagen hat und jetzt für einen Sekundenbruchteil in der Schwebe bleibt, bis es zur anderen Seite schwingt. Bei Sonnenaufgang am 25. Dezember ist dieser Bann gebrochen, und wir schwingen zurück in die andere Richtung. Die magischen Tage sind wieder für ein Jahr vorüber, und meine Wache beginnt von vorn.
Der Song, der am meisten nach Dezember klingt, ist seltsamerweise eine Ballade der Damn Yankees, die » High Enough « heißt. Ich habe aber eine ganze Liste von Dezemberliedern. » Love Is On The Way « von Saigon Kick, » Don’t Cry « von Guns N’ Roses, » Wait « von White Lion, » House of Pain « von Faster Pussycat und » Don’t Close Your Eyes « von Kix. Das ist mein Soundtrack für den Monat Dezember. Ach ja, und einen hab ich noch vergessen: » Don’t Know What You’ve Got (Till It’s Gone) « von Cinderella. Ja, ich liebe Cinderella immer noch, und ja, ich kann Ihr abschätziges Schnauben hören. Macht mir aber nichts. Ich bin’s inzwischen gewöhnt, ich höre es sogar von Lorri.
Wenn ich versuche, mir den Himmel vorzustellen, ist es ein Ort, an dem immer Dezember ist. Jeder Radiosender spielt Langhaar-Metal, und jedes Mal, wenn ich in die Tasche greife, ist sie voll von Hershey’s Kisses. Durch jede Straße zieht eine Weihnachtsparade, jeden Tag habe ich Geburtstag, und jeden Tag geht die Sonne um 16 Uhr 58 unter.
Diese Untätigkeit bringt mich um, sie verschleißt mich von Tag zu Tag. Die Justiz hat nichts dagegen, mich an Altersschwäche sterben zu lassen. Wenn nicht bald jemand etwas tut, wird von mir nichts mehr zu retten sein.
Heute Morgen bin ich aufgewacht und habe eine Spinne auf meinem Frühstückstablett gefunden. Sie klebte zerquetscht an einem Stück Brot. Etwas daran sah für ein bloßes Missgeschick zu bösartig aus. Ich fühle mich den ganzen Tag nicht in Ordnung. Jedes Mal, wenn mir diese Spinne wieder in den Sinn kommt, dreht sich mir der Magen um.
Heute Nacht habe ich mich wieder gespalten und mich selbst gesehen, wie ich es mit sieben schon erlebt habe. Heute Nacht war ich der Geist meines sechzehnjährigen Ich. Es ging so schnell, dass ich überhaupt nichts sagen oder tun konnte. Es war nur ein Flackern. Ich habe nach Luft geschnappt wie ein Fisch auf dem Trockenen, und mein Herzschlag dröhnte wie Donner in meinen Ohren. Auslöser war das Fasten. Wegen der Spinne habe ich keinen Appetit mehr. Eine tote Spinne hat mir zum Geisterflackern verholfen. Zwischen mir und dem Geist des Sechzehnjährigen liegt ein Feld. Auf diesem Feld warten Dinge, die die Grenze zwischen mir von heute und dem Geist von damals nicht überschreiten können. Man muss flott gehen und sich zielstrebig bewegen, sonst schwärmen die Geister überall um einen herum. Fast nie bekommen sie die Chance, uns zu berühren, aber sie warten immer darauf. Normalerweise können sie einen nicht mal sehen, wenn man nicht auf diesem Geisterflackern treibt. Ich bewege mich vorwärts und rückwärts zugleich. Irgendein Teil meiner selbst ist immer im Geisterflackern.
Oder das Flackern ist in mir. Allmählich ist das schwer zu unterscheiden. Alles passiert gleichzeitig, und ich kann nichts richtig festnageln. Es ist zu viel. Das Flackern ist so, als habe man Benzindämpfe eingeatmet. Es ist ein vulgärer Schimmer ohne falsche Anmut, eine Welt
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