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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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noch einmal raten musste, dann vermutlich nicht.
    »Okay, Alice, wir haben hier Ihr letztes Blutbild und Ihr MRT. Ich hätte gern, dass Sie noch ein zusätzliches Blutbild und eine Lumbalpunktion machen lassen. Kommen Sie in vier bis fünf Wochen wieder, und vereinbaren Sie für den Tag einen Termin für einen neuropsychologischen Test, bevor Sie zu mir kommen.«
    »Was glauben Sie, dass es ist? Ist es einfach nur normale Vergesslichkeit?«
    »Das glaube ich nicht, Alice, aber wir müssen der Sache erst einmal genauer auf den Grund gehen.«
    Sie sah ihm genau in die Augen. Ein Kollege von ihr hatteihr einmal erzählt, Blickkontakt mit einer anderen Person für mehr als sechs Sekunden, ohne wegzusehen oder zu blinzeln, würde entweder Sex- oder Mordgelüste verraten. Instinktiv glaubte sie nicht daran, aber es interessierte sie doch genug, um es bei verschiedenen Freunden und Fremden immer wieder auszutesten. Interessanterweise wandte, mit Ausnahme von John, einer von ihnen immer den Blick ab, bevor die sechs Sekunden verstrichen waren.
    Dr. Davis sah nach vier Sekunden auf seine Unterlagen. Das bedeutete vielleicht nur, dass er ihr weder nach dem Leben trachtete noch die Kleider vom Leib reißen wollte, aber sie war besorgt, dass es mehr zu bedeuten hatte. Sie würde überprüft und durchgecheckt, gescannt und getestet werden, aber sie nahm an, dass er im Grunde keine weiteren Untersuchungen durchführen musste. Sie hatte ihm ihre Geschichte erzählt, und sie hatte sich nicht an John Blacks Adresse erinnern können. Er wusste bereits genau, was mit ihr nicht stimmte.

    An Heiligabend verbrachte Alice die ersten Stunden des Tages auf der Couch, schlürfte Tee und blätterte in Fotoalben. Im Laufe der Jahre hatte sie alle neu entwickelten Fotos immer einfach in die nächsten freien Fächer der Klarsichthüllen gesteckt. Dank ihrer Sorgfalt blieb die Chronologie erhalten, aber sie hatte nichts beschriftet. Das war egal. Sie wusste noch immer alles auswendig.
    Lydia mit zwei, Tom mit sechs und Anna mit sieben am Hardings Beach im Juni ihres ersten Sommers in ihrem Haus am Cape. Anna bei einem Jugend-Fußballspiel auf dem Pequosette Field. Sie und John am Seven Mile Beach auf Grand Cayman Island.
    Sie konnte auf jedem Schnappschuss nicht nur das Alter der Personen und den Schauplatz bestimmen, sie konnte beiden meisten von ihnen auch den Zusammenhang im Detail erläutern. Jeder Abzug weckte andere, nicht fotografierte Erinnerungen an den jeweiligen Tag, an die Leute, die außerdem dabei gewesen waren, und an den größeren Kontext ihres Lebens zu der Zeit, als das Bild festgehalten worden war.
    Lydia in ihrem kratzigen, kobaltblauen Kostüm bei ihrer ersten Tanzaufführung. Das war vor Alice’ Festanstellung gewesen, Anna ging auf die Junior High und hatte eine Zahnspange, Tom war unglücklich verliebt in ein Mädchen aus seinem Baseballteam, und John hatte ein Forschungsjahr und lebte in Bethesda.
    Die einzigen Bilder, bei denen sie wirklich Mühe hatte, waren die Babyfotos von Anna und Lydia, deren makellose, pummelige Gesichter sich oft zum Verwechseln ähnlich sahen. Aber meistens fand sie dann doch irgendwelche Hinweise, anhand deren sie sie identifizieren konnte. Johns Koteletten konnten nur aus den Siebzigerjahren stammen. Das Baby in seinem Schoß musste Anna sein.
    »John, wer ist das?«, fragte sie und hielt ein Bild eines Babys hoch.
    Er sah von der Zeitung auf, die er gerade las, schob die Brille auf seiner Nase herunter und kniff die Augen zusammen.
    »Ist das Tom?«
    »Schatz, sie trägt ein rosa Strampelhöschen. Das ist Lydia.«
    Sie sah auf der Rückseite nach, wo das Kodak-Datum aufgedruckt war, um ganz sicher zu sein. 29. Mai 1982. Lydia.
    »Oh.«
    Er schob seine Brille wieder hoch und las weiter.
    »John, ich wollte mit dir über Lydias Schauspielunterricht reden.«
    Er sah auf, knickte die Seite an einer Ecke um, legte die Zeitung auf den Tisch, klappte seine Brille zusammen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er wusste, dass dieses Gespräch länger dauern würde.
    »Na schön.«
    »Ich denke nicht, dass wir sie dort drüben in irgendeiner Weise unterstützen sollten, und ich denke vor allem nicht, dass du hinter meinem Rücken ihren Unterricht bezahlen solltest.«
    »Es tut mir leid, du hast recht, ich wollte es dir ja sagen, aber dann hatte ich so viel um die Ohren und hab’s einfach vergessen. Du weißt doch, wie das ist. Aber du weißt auch, dass wir in dem Punkt geteilter Meinung sind.

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