Mein Leben Ohne Gestern
fünf Minuten. Sie benötigte ein erweitertes Verzögerungsintervall.
Sie schnappte sich das Wörterbuch vom Regal und dachte sich zwei Regeln für die Auswahl eines Wortes aus. Es musste selten vorkommen – ein Wort, das sie nicht jeden Tag gebrauchte –, und es musste ein Wort sein, das sie bereits kannte. Sie wollte ihr Kurzzeitgedächtnis testen, nicht ihren Wortschatz erweitern. Sie schlug das Wörterbuch wahllos auf und legte ihren Finger auf das Wort NILPFERD. Sie schrieb es auf ein Blatt Papier, faltete es zusammen, steckte es ein undstellte die Zeitschaltuhr der Mikrowelle auf fünfzehn Minuten ein.
Eines von Lydias Lieblingsbüchern aus Kleinkindertagen war Das kleine Nilpferd gewesen. Dann begann sie mit den Essensvorbereitungen für Heiligabend. Die Zeitschaltuhr piepste.
NILPFERD, ohne zu zögern oder auf dem Blatt Papier nachsehen zu müssen.
Dieses Spiel spielte sie den ganzen Tag über weiter; sie erhöhte die Anzahl der Wörter, die sie sich einprägen musste, auf drei und die Zeit, die verstreichen musste, auf fünfundvierzig Minuten. Obwohl sie sich ihr Ziel höher steckte und durch die weiteren Essensvorbereitungen vermutlich leichter abzulenken war, blieb sie fehlerfrei. STETHOSKOP, JAHRTAUSEND, IGEL. Sie machte die Ricottaravioli und die rote Sauce. KATHODE, GRANATAPFEL, SPALIER. Sie mischte den Salat und marinierte das Gemüse. LÖWENMAUL, DOKUMENTATION, VERSCHWINDEN. Sie schob den Braten in den Ofen und deckte den Esszimmertisch.
Anna, Charlie, Tom und John saßen im Wohnzimmer. Alice hörte Anna und John streiten. Das Thema konnte sie von der Küche aus nicht verstehen, aber der Tonfall und die Lautstärke des Wortwechsels verrieten ihr, dass es ein Streitgespräch war. Vermutlich Politik. Charlie und Tom hielten sich heraus.
Lydia rührte den Glühwein auf dem Herd um und redete von ihrem Schauspielunterricht. Zwischen den Essensvorbereitungen, auf die sie sich konzentrieren musste, den Wörtern, die sie sich einprägen musste, und Lydia hatte Alice den Kopf nicht frei, um zu protestieren oder zu kritisieren. Ungestört hielt Lydia einen freien und leidenschaftlichen Monolog über ihre Kunst, und trotz ihrer heftigen Vorurteile dagegen konnte Alice nicht umhin, sich dafür zu interessieren.
»Nach der Bildersprache führst du die Elija-Frage aus, warum diese Nacht und keine andere«, sagte Lydia.
Die Zeitschaltuhr piepste. Lydia trat unaufgefordert einenSchritt zur Seite, und Alice warf einen Blick in den Ofen. Sie wartete so lange auf eine Erklärung von dem Braten, der noch längst nicht gar war, bis ihr Gesicht unerträglich heiß wurde. Ach so . Es war Zeit, sich an die drei Wörter in ihrer Hosentasche zu erinnern. TAMBURIN, SCHLANGE…
»Du spielst nie das normale, gewöhnliche Alltagsleben, es geht immer um Leben und Tod«, sagte Lydia.
»Mom, wo ist denn der Weinöffner?«, rief Anna aus dem Wohnzimmer.
Alice versuchte verzweifelt, die Stimmen ihrer Töchter zu ignorieren, die Stimmen, die sie ihr Leben lang vor allen anderen Geräuschen auf dem Planeten gehört hatte, und sich auf ihre eigene innere Stimme zu konzentrieren, die Stimme, die dieselben beiden Wörter immer wieder wie ein Mantra wiederholte.
TAMBURIN, SCHLANGE, TAMBURIN, SCHLANGE, TAMBURIN, SCHLANGE.
»Mom?«, fragte Anna.
»Ich weiß nicht, wo er ist, Anna! Ich kann jetzt nicht, such selbst danach.«
TAMBURIN, SCHLANGE, TAMBURIN, SCHLANGE, TAMBURIN, SCHLANGE.
»Letztendlich geht es immer ums Überleben. Was braucht meine Figur, um zu überleben, und was wird aus mir werden, wenn ich es nicht beschaffe«, sagte Lydia.
»Lydia, bitte, ich will jetzt nichts davon hören«, fuhr Alice sie an und presste die Fingerspitzen an ihre verschwitzten Schläfen.
»Na schön«, sagte Lydia. Sie wandte sich abrupt zum Herd um und rührte wie wild, sichtlich verletzt.
TAMBURIN, SCHLANGE.
»Ich kann ihn nirgends finden!«, brüllte Anna.
»Ich helfe ihr suchen«, sagte Lydia.
KOMPASS! TAMBURIN, SCHLANGE, KOMPASS.
Erleichtert stellte Alice die Zutaten für den Brotpudding mit weißer Schokolade auf dem Küchentresen zusammen – Vanilleextrakt, einen halben Liter Schlagsahne, Milch, Zucker, weiße Schokolade, einen Laib Challah-Brot und zwei Sechserschachteln Eier. Ein Dutzend Eier? Falls dieses Notizblatt mit dem Rezept ihrer Mutter noch immer irgendwo existierte, dann wusste Alice jedenfalls nicht, wo. Sie hatte seit Jahren nicht mehr darauf zurückgreifen müssen. Es war ein einfaches Rezept, bestimmt besser
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