Mein Leben Ohne Gestern
Die anderen beiden haben wir auch unterstützt.«
»Das war etwas anderes.«
»Nein. Dir gefällt nur nicht, was sie sich ausgesucht hat.«
»Es geht nicht um die Schauspielerei. Es geht darum, dass sie nicht aufs College geht. Das Zeitfenster, in dem sie sich dafür entscheiden könnte, schließt sich schnell, John, und du machst es ihr einfach leichter, es sein zu lassen.«
»Sie will nicht aufs College gehen.«
»Ich glaube, sie rebelliert nur gegen das, was wir sind.«
»Ich glaube nicht, dass es irgendetwas damit zu tun hat, was wir wollen oder nicht wollen oder wer wir sind.«
»Ich will mehr für sie.«
»Sie arbeitet hart, sie ist mit Leidenschaft und Ernst bei der Sache, sie ist glücklich. Das ist es doch, was wir für sie wollen.«
»Es ist unsere Aufgabe, unsere Weisheit über das Leben an unsere Kinder weiterzugeben. Ich habe wirklich Angst, dass sie etwas Entscheidendes verpasst. Andere Gebiete kennenzulernen, andere Denkweisen, Herausforderungen, Gelegenheiten, Leute, die man trifft. Wir haben uns auf dem College kennengelernt.«
»Sie bekommt das alles.«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Dann ist es eben etwas anderes. Ich finde, es ist mehr als fair, ihren Unterricht zu bezahlen. Es tut mir leid, dass ich esdir nicht gesagt habe, aber in dem Punkt ist es einfach schwierig, mit dir reden. Du lenkst nie auch nur ein bisschen ein.«
»Du auch nicht.«
Er warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims, griff nach seiner Brille und schob sie nach oben über die Stirn.
»Ich muss für ungefähr eine Stunde ins Labor, und dann hole ich sie am Flughafen ab. Soll ich dir irgendetwas mitbringen?«, fragte er und erhob sich zum Gehen.
»Nein.«
Sie starrten sich an.
»Sie schafft das schon, Ali, mach dir keine Sorgen.«
Sie zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Was konnte sie schon sagen? Sie hatten diese Szene schon oft durchgespielt, und sie endete jedes Mal so. John sprach sich stets für den logischen Weg des geringsten Widerstands aus, wahrte seinen Status als der bevorzugte Elternteil, überredete Alice nie, auf die beliebte Seite überzuwechseln. Und nichts, was sie sagte, konnte ihn je umstimmen.
John verließ das Haus. Jetzt, wo er gegangen war, entspannte Alice sich und wandte sich wieder den Fotos in ihrem Schoß zu. Ihre entzückenden Kinder als Babys, Kleinkinder, Teenager. Wo war die ganze Zeit geblieben? Sie hielt das Babyfoto von Lydia hoch, auf dem John sie für Tom gehalten hatte. Sie verspürte ein erneuertes, beruhigendes Vertrauen in die Kraft ihres Gedächtnisses. Aber diese Bilder öffneten natürlich nur die Türen zu Geschichten, die im Langzeitgedächtnis gespeichert waren.
John Blacks Adresse hätte sie im Kurzzeitgedächtnis gespeichert. Aufmerksamkeit, Wiederholung, Vertiefung oder emotionale Bedeutung war erforderlich, wenn eine aufgenommene Information über den Kurzzeitgedächtnisspeicher hinaus im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden sollte, andernfalls würde sie mit der Zeit rasch auf natürlichem Wege entsorgt werden. Die Konzentration auf Dr. Davis’ Fragen undAnweisungen hatte ihre Aufmerksamkeit abgelenkt und verhindert, dass sie die Adresse wiederholte oder vertiefte. Und auch wenn sein Name jetzt eine leise Angst und Wut in ihr erzeugte, hatte ihr dieser fiktive John Black in Dr. Davis’ Sprechzimmer doch gar nichts bedeutet. Unter diesen Umständen war ein durchschnittliches Gehirn sicher geneigt, die Adresse zu vergessen. Aber andererseits war ihr Gehirn nicht durchschnittlich.
Sie hörte die Post durch den Briefschlitz in der Haustür fallen und hatte eine Idee. Sie sah sich jede Sendung einzeln an – ein Baby mit einer Weihnachtsmannmütze auf der Weihnachtskarte eines ehemaligen Forschungsstudenten, eine Reklame für einen Fitnessclub, die Telefonrechnung, die Gasrechnung, noch ein LL-Bean-Katalog. Sie kehrte zurück zur Couch, trank ihren Tee, stellte die Fotoalben zurück ins Regal und saß dann reglos da. Das Ticken der Uhr und das sporadische Entweichen von Dampf aus den diversen Heizkörpern waren die einzigen Geräusche im Haus. Sie starrte auf die Uhr. Fünf Minuten verstrichen. Lange genug.
Ohne die Post anzusehen, sagte sie laut: »Karte mit Baby mit Weihnachtsmannmütze, Angebot für Fitnessclub-Mitgliedschaft, Telefonrechnung, Gasrechnung, noch ein LL-Bean-Katalog.«
Kinderleicht . Aber die Zeit, nachdem ihr John Blacks Adresse genannt worden war und bevor sie sie wieder aufsagen sollte, war weitaus länger gewesen als
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