Mein Leben Ohne Gestern
als Martys Käsekuchen, und sie hatte ihn jedes Jahr an Heiligabend gebacken, seit sie ein junges Mädchen war. Wie viele Eier? Es mussten mehr als sechs sein, sonst hätte sie nur eine Schachtel aus dem Kühlschrank genommen. Waren es sieben, acht, neun?
Sie versuchte, die Eier erst einmal beiseitezulassen, aber die anderen Zutaten erschienen ihr ebenso fremd. Sollte sie die ganze Schlagsahne nehmen oder nur einen Teil davon abmessen? Wie viel Zucker? Sollte sie alles auf einmal zusammenrühren oder in einer bestimmten Reihenfolge? Welche Form benutzte sie dafür? Bei welcher Temperatur musste sie ihn backen und wie lange? Keine dieser Möglichkeiten klang wahrscheinlich. Die Information war einfach nicht da.
Was zum Teufel ist mit mir los?
Sie dachte noch einmal über die Eier nach. Noch immer nichts. Sie hasste diese verdammten Eier. Sie hielt eines in der Hand und warf es mit voller Wucht in die Küchenspüle. Dann zerbrach sie nacheinander alle anderen. Es verschaffte ihr eine gewisse Befriedigung, aber nicht annähernd genug. Sie musste noch irgendetwas zerschlagen, etwas, was mehr Muskelkraft erforderte, etwas, was sie erschöpfen würde. Sie suchte mit den Augen die Küche ab. Ihr Blick war wütend und wild, als er Lydias im Türrahmen auffing.
»Mom, was tust du denn da?«
Das Chaos war nicht auf die Küchenspüle beschränkt geblieben. Eierschalen und Eidotter klebten überall an der Wandund auf dem Küchentresen, und an den Türen der Küchenschränke hingen Schmierfilme von Eiweiß.
»Die Eier waren abgelaufen. Dann gibt es dieses Jahr eben keinen Pudding.«
»Aber den Pudding müssen wir haben, es ist Weihnachten.«
»Na ja, wir haben aber keine Eier mehr, und ich habe es satt, in dieser heißen Küche herumzustehen.«
»Ich gehe zum Geschäft. Setz du dich ins Wohnzimmer und entspann dich, und ich werde mich um den Pudding kümmern.«
Alice ging ins Wohnzimmer, noch immer zitternd, aber nicht mehr außer sich vor Wut. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich bevormundet fühlen oder dankbar sein sollte. John, Tom, Anna und Charlie saßen da und unterhielten sich, Gläser mit Rotwein in den Händen. Offenbar hatte jemand den Weinöffner gefunden. Lydia, in Mantel und Mütze, steckte den Kopf durch die Tür.
»Mom, wie viele Eier brauche ich?«
JANUAR 2004
Sie hätte gute Gründe gehabt, ihre Termine bei der Neuropsychologin und bei Dr. Davis am Morgen des neunzehnten Januar abzusagen. Die Prüfungswoche für das Herbstsemester in Harvard fiel in den Januar, nachdem die Studenten aus den Winterferien zurück waren, und die Abschlussprüfung für Alice’ Kognitionskurs sollte an diesem Morgen stattfinden. Ihre Anwesenheit war nicht zwingend erforderlich, aber sie mochte das Gefühl, dass etwas erfolgreich abgeschlossen war, das sie empfand, wenn sie dabei war, wenn sie ihre Studenten vom Anfang bis zum Ende des Kurses begleitete. Etwas widerstrebend richtete sie es so ein, dass ein Tutor bei der Prüfung Aufsicht führte. Der andere, noch wichtigere Grund war der, dass ihre Mutter und ihre Schwester an einem neunzehnten Januar gestorben waren, vor einunddreißig Jahren. Sie hielt sich nicht für abergläubisch, so wie John, aber sie hatte an diesem Tag einfach noch nie gute Nachrichten erhalten. Sie hatte die Sprechstundenhilfe um einen anderen Termin gebeten, aber es hieß, entweder an diesem Tag oder erst vier Wochen später. Daher hatte sie den Termin angenommen. Und sie sagte ihn nicht ab. Die Vorstellung, noch einen ganzen Monat länger zu warten, behagte ihr nicht.
Sie dachte an ihre Studenten in Harvard, die nervös darauf warteten, welche Fragen wohl kommen würden, um dann hastig das Wissen eines ganzen Semesters auf die Seiten ihrer blauenPrüfungsbögen zu kritzeln, in der Hoffnung, ihr vollgestopftes Kurzzeitgedächtnis möge sie nicht im Stich lassen. Sie wusste genau, wie ihnen zumute war. Die meisten neuropsychologischen Tests, denen sie sich an diesem Morgen unterzogen hatte, waren ihr bekannt – Stroop-Test, Raven-Matrizen-Test, mentale Rotation nach Luria, Boston-Naming-Test, WAIS-R-Bilderordnen, Benton-Test, NYU-Story-Gedächtnistest. Mithilfe dieser Tests sollte jede noch so kleine Leistungsschwäche in der Sprachfertigkeit, dem Kurzzeitgedächtnis und den Denkprozessen aufgedeckt werden. Tatsächlich hatte sich Alice vielen dieser Tests schon öfter unterzogen, wenn sie in Kognitionsstudien von Forschungsstudenten als Negativkontrolle diente. Aber heute war sie keine
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