Mein Leben Ohne Gestern
Montag, Dienstag oder Mittwoch?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Dann raten Sie einfach.«
»Montag.«
»War es ein Hurrikan, ein Tornado, ein Schneesturm oder eine Lawine?«
»Ein Schneesturm.«
»Ereignete sich die Geschichte im Januar, Februar, März oder April?«
»Februar.«
»Welcher Flughafen wurde zugeschneit: O’Hare, Hackett, Billings oder Dulles?«
»Dulles.«
»Wie viele Reisende waren gestrandet: vierzig, fünfzig, sechzig oder siebzig?«
»Ich weiß nicht, siebzig.«
»Wie viele Kinder saßen fest: zwei, vier, sechs oder acht?«
»Acht.«
»Wer saß zusammen mit den Kindern noch fest: zwanzig Feuerwehrleute, zwanzig Polizisten, zwanzig Geschäftsleute oder zwanzig Lehrer?«
»Feuerwehrleute.«
»Sehr gut, dann sind wir hier jetzt fertig. Ich bringe Sie zu Dr. Davis.«
Sehr gut? War es möglich, dass sie sich an die Geschichte erinnerte, ohne zu wissen, dass sie es wusste?
Als sie Dr. Davis’ Sprechzimmer betrat, wunderte sie sich, John bereits dort zu sehen, auf dem Platz, der bei ihren beiden letzten Besuchen auffällig leer geblieben war. Jetzt waren sie alle da. Alice, John und Dr. Davis. Sie konnte nicht glauben, dass das hier wirklich passierte, dass das hier ihr Leben war, dass sie eine kranke Frau war, die zusammen mit ihrem Mann einen Termin bei ihrem Neurologen wahrnahm. Sie kam sich fast vor, als würde sie eine Rolle in einem Stück spielen – sie spielte diese Frau mit der Alzheimer-Krankheit. Der Ehemann hatte sein Skript in seinen Schoß gelegt. Nur dass es kein Skript war, sondern der ADL-Fragebogen zur Beurteilung der Alltagsaktivitäten. (Arztsprechzimmer innen. Der Neurologe der Frau sitzt dem Ehemann der Frau gegenüber. Auftritt Frau.)
»Alice, bitte nehmen Sie Platz. Ich habe gerade schon ein paar Minuten mit John gesprochen.«
John spielte mit seinem Ehering und wippte mit dem rechten Bein. Ihre Stühle berührten sich, sodass ihrer von dieser Bewegung vibrierte. Worüber hatten sie geredet? Sie wollte mit John unter vier Augen sprechen, bevor sie anfingen, wollte herausfinden, was passiert war, und ihre Geschichten in Einklang bringen. Und sie wollte ihn bitten, nicht an ihrem Stuhl zu ruckeln.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Dr. Davis.
»Gut.«
Er lächelte sie an. Es war ein freundliches Lächeln, und es besänftigte ihre Angst.
»Okay, wie sieht es mit Ihrem Gedächtnis aus, gibt es irgendwelche zusätzlichen Sorgen oder Veränderungen, seit Sie das letzte Mal hier waren?«
»Na ja, ich würde sagen, es fällt mir schwerer, meine Termine im Griff zu behalten. Ich muss den ganzen Tag immer wieder in meinem Blackberry und auf meinenErledigungslisten nachsehen. Und inzwischen hasse ich es zu telefonieren. Wenn ich meinen Gesprächspartner nicht sehen kann, fällt es mir sehr schwer, der gesamten Unterhaltung zu folgen. Meistens verliere ich den Faden von dem, was der andere sagt, während ich den Wörtern in meinem Kopf nachjage.«
»Wie sieht es mit Ihrer Orientierungslosigkeit aus, hatten Sie noch mehr Episoden, in denen Sie verirrt oder durcheinander waren?«
»Nein. Na ja, manchmal komme ich mit der Uhrzeit durcheinander, selbst wenn ich auf meine Armbanduhr sehe, aber irgendwann komme ich dann doch dahinter. Einmal bin ich in mein Büro gegangen, als ich dachte, es sei morgens, und erst als ich nach Hause kam, habe ich gemerkt, dass es mitten in der Nacht war.«
»Tatsächlich?«, fragte John. »Wann war das denn?«
»Ich weiß nicht, letzten Monat, glaube ich.«
»Und wo war ich?«
»Du hast geschlafen.«
»Warum erfahre ich erst jetzt davon, Ali?«
»Ich weiß nicht, habe ich vielleicht vergessen, es dir zu sagen?«
Sie lächelte, aber das schien für ihn nichts zu ändern. Wenn überhaupt, dann war seine Angst jetzt nur noch umso deutlicher.
»Diese Art von Verwirrtheit und nächtlichem Herumlaufen tritt sehr häufig auf, und es wird vermutlich wieder vorkommen. Sie sollten sich vielleicht überlegen, ob Sie ein Glöckchen an der Haustür befestigen wollen, irgendetwas, das John aufweckt, wenn die Tür mitten in der Nacht geöffnet wird. Und ich denke, Sie sollten sich beim Safe-Return-Programm der Alzheimer-Gesellschaft registrieren lassen. Ich glaube, das kostet so um die vierzig Dollar, und dann bekommen Sie ein Erkennungsarmband mit einem persönlichen Code.«
»Ich habe ›John‹ in meinem Handy gespeichert, und das habe ich immer in dieser Tasche bei mir.«
»Okay, das ist schon einmal gut, aber was, wenn der Akku leer
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