Mein Leben Ohne Gestern
nebeneinanderher gelebt.
»Ich glaube, wir haben einander zu lange allein gelassen.«
»Ich fühle mich nicht allein gelassen, Ali. Mir gefällt unser Leben. Ich finde, die Unabhängigkeit, mit der wir unsere eigenen Leidenschaften verfolgen, und unser gemeinsames Leben haben sich immer gut die Waage gehalten.«
Sie dachte über seine Leidenschaft nach, seine Forschung, die stets extremer gewesen war als ihre. Selbst wenn seine Versuche ihn enttäuschten, wenn Daten nicht stimmig waren, wenn Hypothesen sich als falsch erwiesen, schwankte er nie in seiner Liebe für diese Leidenschaft. Egal, wie fehlerhaft sie war, selbst wenn er sich die ganze Nacht darüber die Haare ausraufte, er liebte sie. Die Zeit, Fürsorge, Aufmerksamkeit und Energie, die er ihr widmete, hatte sie stets inspiriert, selbst härter an ihrer eigenen Forschung zu arbeiten. Und sie hatte es auch getan.
»Und du bist auch nicht allein gelassen, Ali. Ich bin doch hier bei dir.«
Er sah auf seine Armbanduhr und kippte den Rest seines Kaffees hinunter.
»Ich muss zu meinem Kurs.«
Er nahm seine Tasche, warf seinen Becher in den Abfall und ging zu ihr hinüber. Er beugte sich zu ihr hinunter, nahm ihren schwarzen Lockenkopf in seine Hände und küsste sie sanft. Sie sah zu ihm hoch und verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln, hielt die Tränen gerade lange genug zurück, bis er ihr Büro verlassen hatte.
Sie wünschte sich, seine Leidenschaft gewesen zu sein.
Sie saß in ihrem Büro, während ihr Kognitionskurs ohne sie stattfand, und sah zu, wie sich der schimmernde Verkehr über den Memorial Drive schob. Sie schlürfte ihren Tee. Sie hatte den ganzen Tag vor sich, und sie hatte nichts zu tun. Ihre Hüfte begann zu vibrieren. Es war acht Uhr morgens. Sie nahm ihren Blackberry aus ihrer himmelblauen Handtasche.
Alice, beantworte die folgenden Fragen:
Welchen Monat haben wir?
Wo wohnst du?
Wo ist dein Büro?
Wann ist Annas Geburtstag?
Wie viele Kinder hast du?
Wenn du Probleme damit hast, eine dieser Fragen zu beantworten, dann geh zu der Datei mit dem Namen »Schmetterling« auf deinem Computer und folge unverzüglich den dortigen Anweisungen.
September
34 Poplar Street, Cambridge
William James Hall, Raum 1002
14. September
drei
Sie schlürfte ihren Tee und sah zu, wie sich der schimmernde Verkehr über den Memorial Drive schob.
OKTOBER 2004
Sie setzte sich im Bett auf und fragte sich, was sie tun sollte. Es war dunkel, noch mitten in der Nacht. Sie war nicht verwirrt. Sie wusste, dass sie eigentlich schlafen sollte. John lag neben ihr auf dem Rücken und schnarchte. Aber sie fand keinen Schlaf. In letzter Zeit konnte sie nachts kaum noch durchschlafen, vermutlich weil sie tagsüber oft ein Nickerchen hielt. Oder hielt sie tagsüber oft ein Nickerchen, da sie nachts nicht gut schlief? Sie war in einem Teufelskreis gefangen, einer positiven Feedback-Schleife, einer schwindelerregenden Fahrt, und sie wusste nicht, wie sie aussteigen sollte. Wenn sie gegen den Drang ankämpfen könnte, tagsüber ein Nickerchen zu halten, vielleicht würde sie dann nachts durchschlafen und das Muster durchbrechen. Aber jeden Tag war sie schon am Spätnachmittag so erschöpft, dass sie sich zum Ausruhen auf die Couch legte. Und dieses Ausruhen verführte sie immer zum Schlafen.
Sie erinnerte sich, vor einem ähnlichen Dilemma gestanden zu haben, als ihre Kinder ungefähr zwei Jahre alt waren. Ohne Mittagsschlaf waren sie am Abend unleidlich und quengelig. Mit einem Mittagsschlaf waren sie nach ihrer üblichen Schlafenszeit noch stundenlang hellwach. An die Lösung konnte sie sich nicht erinnern.
Bei den ganzen Pillen, die ich nehme, würde man doch meinen, dass wenigstens eine davon Schläfrigkeit als Nebenwirkung hat. Oh. Ich habe doch noch dieses Rezept für Schlaftabletten .
Sie stieg aus dem Bett und ging die Treppe hinunter. Obwohl sie fast sicher war, dass es nicht darin war, leerte sie zuerst ihre himmelblaue Handtasche aus. Brieftasche, Blackberry, Handy, Schlüssel. Sie öffnete ihre Brieftasche. Kreditkarte, Scheckkarte, Führerschein, Harvard-Ausweis, Versicherungskarte, zwanzig Dollar, eine Handvoll Kleingeld.
Sie durchwühlte die weiße Pilzschale, in der sie die Post aufbewahrten. Stromrechnung, Gasrechnung, Telefonrechnung, Hypothekenauszug, irgendetwas von Harvard, Quittungen.
Sie öffnete die Schubladen des Schreibtischs und des Aktenschranks im Arbeitszimmer und leerte sie aus. Sie kippte die
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