Mein Leben Ohne Gestern
Sand. Sie sah Christina, ihre besten Freundin aus dem Kindergarten und immer noch fünf Jahre alt, dabei zu, wie sie einen Schmetterlingsdrachen steigen ließ. Die rosa und gelben Gänseblümchen an Christinas Badeanzug, die blauen und violetten Flügel an dem Schmetterlingsdrachen, das Blau des Himmels, die gelbe Sonne, der rote Nagellack an ihren eigenen Zehennägeln, jede Farbe vor ihr war strahlender und schillernder als alles, was sie je zuvor gesehen hatte. Während sie Christina zusah, war sie überwältigt von Freude und Liebe, nicht so sehr für ihre Kindheitsfreundin, sondern für die kräftigen und atemberaubenden Farben ihres Badeanzugs und ihres Drachens.
Anne, ihre Schwester, und Lydia, beide etwa sechzehn Jahre alt, lagen nebeneinander auf rot-weiß-blau gestreiften Strandtüchern. Ihre glänzenden, karamellfarbenen Körper in ihren identischen bonbonrosa Bikinis glitzerten in der Sonne. Auchsie waren glänzend, faszinierend, in Farben wie aus dem Bilderbuch.
»Bist du so weit?«, fragte John.
»Ich habe ein bisschen Angst.«
»Jetzt oder nie.«
Sie stand da, und er schnallte ihren Oberkörper in ein Gurtwerk, das an einem orangeroten Gleitschirm befestigt war. Er klickte und stellte Schnallen ein, bis sie sich sicher und geborgen fühlte. Er hielt sie an den Schultern fest, drückte gegen die ungeheure unsichtbare Kraft, die sie nach oben treiben wollte.
»Bist du so weit?«, fragte John.
»Ja.«
Er ließ sie los, und sie stieg in einem atemberaubenden Tempo in die Farbenpracht des Himmels auf. Die Winde, auf denen sie sich fortbewegte, waren berauschende Wirbel aus Eierschale, Immergrün, Lavendel und Fuchsie. Der Ozean unter ihr war ein wogendes Kaleidoskop aus Türkis, Aquamarin und Violett.
Christinas Schmetterlingsdrachen hatte sich seine Freiheit erkämpft und flatterte in ihrer Nähe vorbei. Er war das Bezauberndste, was Alice je
gesehen hatte, und sie wollte ihn mehr als alles andere, was sie je begehrt hatte. Sie streckte die Hand aus, um nach seiner Schnur zu fassen, aber eine
plötzliche kräftige Veränderung der Strömung warf sie herum. Sie sah zurück, aber jetzt war er verdeckt von dem leuchtenden Sonnenuntergangsrot ihres
Gleitschirms. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie nicht steuern konnte. Sie sah hinunter auf die Erde, auf die lebendigen Punkte, die ihre Familie
waren. Sie fragte sich, ob diese schönen, stürmischen Winde sie je zu ihnen zurückbringen würden.
Lydia lag zusammengerollt auf der Seite, auf der Decke von Alice’ Bett. Die Jalousien waren hochgezogen, und weiches, gedämpftes Tageslicht fiel ins Zimmer.
»Träume ich?«, fragte Alice.
»Nein, du bist wach.«
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Ein paar Tage inzwischen.«
»Oh nein, das tut mir leid.«
»Ist schon gut, Mom. Es tut gut, deine Stimme zu hören. Meinst du, du hast zu viele Pillen genommen?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Es könnte sein. Ich wollte das nicht.«
»Ich mache mir Sorgen um dich.«
Alice sah Lydia im Detail an, Nahaufnahmen ihrer Züge. Sie erkannte jeden einzelnen davon, so wie Leute das Haus erkannten, in dem sie aufgewachsen waren, die Stimme eines Elternteils, die Falten ihrer eigenen Hände, instinktiv, ohne Anstrengung oder bewusste Überlegung. Aber seltsamerweise fiel es ihr schwer, Lydia als Ganzes zu identifizieren.
»Du bist so schön«, sagte Alice. »Ich habe solche Angst davor, dich anzusehen und nicht zu wissen, wer du bist.«
»Ich glaube, selbst wenn du eines Tages nicht mehr wissen solltest, wer ich bin, wirst du immer noch wissen, dass ich dich liebe.«
»Aber was, wenn ich dich sehe und nicht weiß, dass du meine Tochter bist, und nicht weiß, dass du mich liebst?«
»Dann werde ich dir sagen, dass ich dich liebe, und du wirst mir glauben.«
Das gefiel Alice. Aber werde ich sie immer lieben? Wohnt meine Liebe zu ihr in meinem Kopf oder in meinem Herzen? Die Wissenschaftlerin in ihr glaubte, dass die Emotionen aus einem komplexen limbischen Gehirnschaltkreis entstanden, einem Schaltkreis, der in diesem Augenblick in den Schützengräben einer Schlacht gefangen war, bei der es keine Überlebendengeben würde. Die Mutter in ihr glaubte, dass die Liebe, die sie für ihre Tochter empfand, sicher vor dem Chaos in ihrem Verstand war, da sie in ihrem Herzen lebte.
»Wie geht es dir, Mom?«
»Nicht so gut. Dieses Semester war schwer, ohne meine Arbeit, ohne Harvard, mit dem Fortschreiten dieser Krankheit und mit deinem Dad, der fast
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